Critical Mass in Zürich5 Verzeigungen und 11 Bussen an einem Abend mit viel Polizei und wenig Velo
Am Freitagabend lief die zweite Ausgabe der Velobewegung unter neuen Vorzeichen. Vor einem Monat hat die Polizei 52 Personen angezeigt. Das hat gewirkt, die Polizei zieht eine positive Bilanz.
Die Velofahrerin ist von einem Auto überfahren worden. Das war vor vier Monaten bei der Fritschiwiese in Zürich, wie sie erzählt. Jetzt ist das Bein noch immer eingebunden, sie berichtet von mehreren Brüchen. Sie hat an ihrem Tandemvelo einen Karton angebracht, auf dem steht «No More – Respect Bicycles», dazu eine Zeichnung. Die Frau steht mit ihrem Tandempartner am Freitag um 18.50 Uhr auf der Stadthausanlage beim Bürkliplatz. Es ist der letzte Freitag im Monat. An diesem Tag haben sich in den vergangenen Monaten stets zum Teil Tausende Velofahrende zur sogenannten Critical Mass versammelt, um mehr Platz fürs Velo zu fordern.
Drei Polizisten nähern sich, einer erklärt dem Paar, dass es eine Verzeigung und Wegweisung riskiert, wenn noch mehr Velofahrende dazukommen. Ab welcher Anzahl die kritische Masse erreicht ist, will der Polizist nicht verraten.
Doch es stehen bloss rund ein Dutzend Velofahrerinnen und Velofahrer etwas unschlüssig herum. Plus ein paar Journalisten. Polizeikräfte hat es deutlich mehr, mehrere Kastenwagen sind rund um den Platz stationiert. Die Polizisten machen einen entspannten Eindruck, jener mit Megafon kommt nicht zum Einsatz und witzelt mit Kollegen herum. Dafür läuft auf einem Polizeiwagen die Endlos-Laufschrift «Unbewilligte Demonstration --- Anweisungen Polizei befolgen». Von Demo ist aber nichts zu sehen.
Es ist die zweite Critical Mass der neuen Ära. Oder der Ansatz dazu. Neue Ära bedeutet: seit der Zürcher Statthalter die Stadtpolizei zwingt, gegen die Velodemo, die keine sein will, vorzugehen.
Streitpunkt ist die Bewilligungspflicht. Wie vor einem Monat haben die Organisatoren, die keine Organisatoren sein wollen, auch diesmal kein Bewilligungsgesuch eingereicht, weil sie sich als Teil des Stadtverkehrs sehen. Die Critical Mass wird nun aber von den Behörden als unbewilligte Demonstration eingestuft.
«Keine Lust auf Polizeirepression»
Es scheint zu wirken. Diese Redaktion hatte Kontakt mit zwei Personen, die wegen des neuen Regimes nicht mehr an der Critical Mass teilnehmen. Beide geben die drohenden Bussen als Grund an. Eine Frau, die fast immer dabei war in den letzten Jahren, sagt: «Ich nehme nicht teil, weil ich keine Lust habe auf Polizeirepression.»
Vor Monatsfrist sind 52 Personen angezeigt worden. Einige von ihnen haben nun vom Stadtrichter Bussen von 200 Franken erhalten wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demo. Möglich wären Bussen bis 500 Franken plus Schreibgebühr. Die Critical Mass sammelt auf der Kommunikationsplattform Telegram bereits Geld, um die Gebüssten zu unterstützen.
Kundgebung beim Rathaus als Trick
Beim alten Rathaus an der Limmat hatte um 18 Uhr eine – bewilligte – Kundgebung unter dem Motto «Ohne CM keine WM – keine Velostadt spricht je 52 Verzeigungen» begonnen. CM steht für Critical Mass, WM für Weltmeisterschaft. Gemeint ist die Rad-WM, welche in gut einem Jahr in Zürich stattfindet. Der Organisator erzählt, Komparsen von ihm seien Mikrofon und Lautsprecher von der Polizei abgenommen worden. Ein ganzer Anhänger: beschlagnahmt.
Die Zahl 52 nehmen die Organisationen spielerisch auf. Sie fordern eine Absage der WM bis in 52 Tagen und jeden Tag 52 Autokontrollen. Polizeivorsteherin Karin Rykart (Grüne) und Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) sollen die Verantwortung für die «Mobilitätsmisere» übernehmen oder den Hut nehmen, heisst es. Später, um 19.15 Uhr, sind einige Dutzend Zuhörer auf der Rathausbrücke. Ein Sprecher redet sich in Rage und wünscht sich die Polizeivorsteherin im Pfefferland.
Die Kundgebung auf der Rathausbrücke, die bis 22 Uhr bewilligt ist, soll auch dazu dienen, dass sich alle Critical-Mass-Teilnehmenden einer drohenden Anzeige entziehen können, indem sie beteuern, unterwegs an die bewilligte Aktion beim Rathaus zu sein.
Von der Rathausbrücke fährt dann ein grösseres Grüppchen los. In der nächsten Stunde, während des Eindunkelns, folgt ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Bike-Polizei und den motorisierten Einsatzkräften. Grüppchen mit einigen Dutzend Velofahrenden werden im Selnauquartier sowie im Kreis 5 gesichtet, stets mit der Polizei im Schlepptau. Von einer kritischen Masse ist die CM an diesem Freitag aber weit entfernt. Und dann fing es an zu regnen.
Die Bilanz der Polizei
Aus Sicht der Stadtpolizei Zürich verlief der Einsatz am Freitagabend erfolgreich, wie ein Sprecher am Samstag auf Anfrage sagte: «Es gab keine nennenswerte Störungen des Individualverkehrs und des öffentlichen Verkehrs.»
Gleichwohl wurden fünf Personen kontrolliert, weggewiesen und verzeigt. Ihnen wirft man die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration vor, sie werden also Post von Stadtrichteramt erhalten. Zudem wurden elf Ordnungsbussen ausgestellt wegen Übertretungen im Strassenverkehr. Und schliesslich wurden zwei Musikanlagen beschlagnahmt.
Wegen Zürich: Anzeigen auch in St. Gallen
Das neue Zürcher Regime fand übrigens Nachahmer in der Schweiz. Die Stadtpolizei St. Gallen warnte die Teilnehmenden der dortige Critical Mass am Freitag, dass es «insbesondere infolge der Entwicklungen in Zürich» Anzeigen geben wird.
Korrektur 26.8.23, 9.37 Uhr: In der ersten Fassung des Textes hiess es, Velotixi habe die bewilligte Kundgebung auf der Rathausbrücke organisiert. Das ist falsch, es war eine Privatperson aus dem Umfeld des unpolitischen Vereins Velotixi.
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