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Medizinskandal in Brasilien
Covid-Kranke als «Versuchskaninchen missbraucht»

In der Region um Manaus starben besonders viele Menschen nach einer Infektion an Covid-19. Um so hoffnungsvoller waren Kranke, als vermeintlich ein Medikament in Sicht war. 
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Einer der potenziell grössten Medizinskandale Lateinamerikas begann zunächst mit einem Hoffnungsschimmer: Zu Beginn dieses Jahres kletterten in Brasilien die Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 in immer schwindelerregendere Höhen. Tausende Menschen starben jeden Tag, Massengräber wurden ausgehoben, sogar Särge wurden knapp.

Vor allem der Norden des Landes und die Amazonas-Region waren besonders stark getroffen, und auch in Itacoatiara, einer Kleinstadt tief im brasilianischen Regenwald, kämpften die Ärzte mit den letzten Mitteln um das Leben ihrer Patienten. Inmitten dieser katastrophalen Situation kam die Nachricht von einem «revolutionären» Medikament, das den Zustand von Patienten innert kürzester Zeit drastisch verbessern würde: Proxalutamid. «Wir sind sehr zuversichtlich, dass dieses Mittel einen grossen Nutzen zeigen wird», sagte der Präsident eines lokalen privaten Klinikbetreibers in Itacoatiara, «nicht nur für die Menschen in Brasilien, sondern in der ganzen Welt.»

Die Behörden ermitteln

Doch aus der Hoffnung ist längst Horror geworden: Denn Proxalutamid ist nicht zugelassen in Brasilien. Der Einsatz des Medikaments in Itacoatiara und anderen Kleinstädten des Landes geschah im Rahmen einer Studie, die unter anderen Voraussetzungen beantragt worden war, als sie letztendlich stattfand. Vor allem aber, sagen Angehörige, seien weder sie noch die Patienten über ihre Teilnahme ausreichend informiert worden. Nun ermitteln brasilianische Behörden, in welchem Zusammenhang der Tod von 200 Menschen steht, die Proxalutamid bekommen hatten.

Das Arzneimittel wurde von einem chinesischen Pharmaunternehmen entwickelt und sollte vor allem bei der Behandlung von Brust- und Prostatakrebs eingesetzt werden. Mit Beginn der weltweiten Covid-19-Pandemie suchten Mediziner und Wissenschaftler nach Wirkstoffen, die im Kampf gegen das Virus eingesetzt werden könnten. Erste kleinere Studien mit Proxalutamid wurden durchgeführt, und tatsächlich reduzierte der Einsatz dabei das Mortalitätsrisiko und verkürzte die Spitalaufenthalte der betroffenen Patienten.

Diese Ergebnisse stiessen auf grosses Interesse in der brasilianischen Regierung: Während Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro stets vor den angeblichen Gefahren der Covid-19-Impfstoffe warnte, lobt er öffentlich gerne Medikamente, deren Wirkung gegen den Erreger höchst umstritten ist. Lange Zeit waren das vor allem das Malariamedikament Hydroxychloroquin und Ivermectin, zuletzt aber eben auch Proxalutamid: Der Wirkstoff sei im Kampf gegen das Virus sehr erfolgreich, und er hoffe, dass das Medikament «sehr bald in ganz Brasilien erhältlich ist», sagte der Präsident.

Zustand verschlechterte sich

Auch deshalb lösen die Berichte aus der Kleinstadt Itacoatiara so viel Aufregung in Brasilien aus: Bewohner berichten davon, dass ihre mit Covid-19 erkrankten Angehörigen ohne ihr Wissen mit Proxalutamid behandelt wurden, woraufhin sich der Zustand der Patienten dramatisch verschlechtert habe, bis sie am Ende starben.

Längst gibt es ähnliche Berichte auch aus anderen Kleinstädten im Amazonas und einem weiteren Bundesstaat. Alle Betroffenen sollen an einer Studie teilgenommen haben, die insgesamt wohl mehr als 600 Menschen umfasste, von denen die Mehrheit wahrscheinlich nichts von ihrer Teilnahme wusste und von denen am Ende rund 200 Patienten tot waren.

Der potenzielle Skandal kommt ans Licht in einer Zeit, in der in Brasilien zwar die Infektionszahlen stark sinken, vor allem auch dank einer erfolgreichen landesweiten Impfkampagne; gleichzeitig steht aber die Regierung Bolsonaro öffentlich unter Druck wegen ihrer in vielen Augen mangelhaften Bekämpfung der Pandemie. Seit Monaten läuft im Parlament ein Untersuchungsausschuss, und zuletzt sagte dort auch ein Anwalt von 12 anonymen Ärzten aus, der davon berichtete, wie private Spitalbetreiber ihr Personal dazu drängten, umstrittene Medikamente einzusetzen gegen das Coronavirus.

Studienleiter verteidigt sich

Schon dies hatte in Brasilien für einen Aufschrei der Empörung gesorgt, nun also noch der Skandal rund um die Tests mit Proxalutamid. In einem Bericht von Forschern und Forscherinnen der Unesco wurde er als eine der potenziell «schwersten und schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen» in der Geschichte Lateinamerikas eingestuft. Der verantwortliche Leiter der Studie, der Endokrinologe Flávio Cadegiani, verteidigte sich allerdings und sagte, dass die Kritiker falsche Massstäbe angelegt hätten.

Anhänger von Jair Bolsonaro sehen hinter dem Skandal einen weiteren Versuch, um die vom Präsidenten öffentlich propagierten, aber gleichzeitig in Fachkreisen höchst umstrittenen Medikamente schlechtzumachen. Gleichzeitig ermitteln nun brasilianische Behörden, und Angehörige haben angekündigt, Klage einzureichen. Sie sagen, man habe ihre Familienmitglieder ohne ihr Wissen als Versuchskaninchen missbraucht.