Schwieriges MonitoringSind wir gerade in einer Corona-Welle?
Wie verbreitet die Ansteckungen sind, ist unklar. Das Abwasser-Monitoring, auf das die Schweiz bei Covid und neu auch bei Grippe und dem RS-Virus setzt, ist nur begrenzt aussagekräftig.
Das Coronavirus Sars-CoV-2 geht wieder um. Man hört es von allen Seiten: Viele sind krank, fallen bei der Arbeit aus, gehen nicht zur Schule, sagen Verabredungen ab. Oft haben sie sich auf Covid getestet und waren positiv. Doch ist das jetzt tatsächlich schon eine echte Welle – oder nur eine gefühlte? Und kommt da noch mehr?
So genau lässt sich das nicht sagen. Spätestens seit dem Ende der Gratis-Labortests Anfang 2023 sind die publizierten Fallzahlen bestenfalls noch ein ungefährer Indikator. Dieser steigt allerdings schon seit August kontinuierlich an – ohne Beschleunigung in den letzten Wochen. Andere Daten, die der Bund wöchentlich veröffentlicht, können ebenfalls nur Hinweise liefern. Die Arztkonsultationen aufgrund von akuten Atemwegsinfekten nehmen seit ein paar Wochen zu. In der letzten Oktoberwoche waren dabei ein Drittel dieser Patientinnen und Patienten mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 angesteckt, wie die Messungen einzelner Stichproben ergaben. Weitere waren mit Rhinoviren (19 Prozent) sowie anderen Erkältungserregern (14 Prozent) infiziert. Das Grippevirus und auch das vor allem bei Kleinkindern gefürchtete Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) zirkulieren bis jetzt kaum. Ein weiterer Hinweis auf eine Corona-Welle liegt in den Zahlen der Hospitalisierungen – und die steigen ebenfalls, wenn auch auf sehr tiefem Niveau verglichen mit Pandemiezeiten.
Wie stark das Virus zirkuliert, bleibt unklar
«Die Daten passen gut zu dem, was wir am Spital sehen», sagt Urs Karrer, Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital Winterthur. «Im Herbst haben die Ansteckungen wegen des warmen Wetters vor sich hin gedümpelt – seit gut drei Wochen halten wir uns wieder vermehrt in Innenräumen auf, was Ansteckungen mit Atemwegsviren stark begünstigt.»
Wie stark Sars-CoV-2 aktuell tatsächlich kursiert, bleibt allerdings unklar. Eigentlich müsste dies das Monitoring von ausgeschiedenen Virenfragmenten im Abwasser zeigen, auf das man in der Schweiz stark setzt. Doch gerade in der aktuellen, unklaren Situation zeigt sich: Auch die Aussagekraft des Abwasser-Monitorings ist beschränkt. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Die Messverfahren wurden zwischendurch geändert, und die Zahlen sagen nicht direkt etwas darüber aus, wie viele Menschen infiziert sind.
Beides trägt dazu bei, dass sich kaum sagen lässt, ob zurzeit eine grosse oder nur eine kleine Welle stattfindet. «Das können wir erst rückblickend feststellen», sagt Christoph Ort, Leiter der Abteilung Siedlungswasserwirtschaft beim Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf ZH, wo das Monitoring entwickelt wurde. «Die Zahl der Sars-CoV-2-Fragmente ist seit dem Sommer langsam, aber stetig angestiegen, in den letzten zwei, drei Wochen jedoch markant», so der Eawag-Forscher. Im Vergleich zum Juli würden durchschnittlich rund 20-mal mehr Coronaviren zirkulieren.
Was dies für die Ansteckungsgefahr genau bedeutet, bleibt offen. Für Risikopersonen beispielsweise mit Herz- oder Atemproblemen, Long-Covid-Betroffene oder Patienten, die immunsupprimierende Medikamente schlucken, wäre es jedoch gut zu wissen, wie gefährlich die aktuelle Situation für sie ist. Auch Spitäler und Arztpraxen würden profitieren und könnten ihre Ressourcen besser planen. «Je nach Virenaktivität passen wir unsere eigenen Testaktivitäten und den Einsatz von Masken zum Schutz unserer gefährdeten Patientinnen und Patienten an», sagt Infektiologe Urs Karrer.
Das Prinzip des Abwassermonitorings ist eigentlich elegant. Denn während und nach einer Ansteckung mit Atemwegsviren wie Sars-CoV-2, aber auch bei Influenza- oder RS-Viren, scheiden Infizierte Stücke des Viren-Erbguts über den Stuhl aus. Diese Fragmente gelangen ins Abwasser und lassen sich in der Kläranlage nachweisen. Diese Virenüberwachung ist dabei komplett unabhängig vom Testverhalten der Bevölkerung, was ein grosser Vorteil ist. Das überzeugte, sodass man in der Schweiz die Zahl der überwachten Abwasserreinigungsanlagen (ARA) während der Pandemie von sechs auf 100 ausdehnte. Anfang 2023 wurde die Zahl wieder halbiert, bis der Bund im Juli das Netz auf die heutigen 14 ARA reduzierte, die über die ganze Schweiz verteilt sind. Diese Abwasserproben decken laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein Viertel der Bevölkerung ab. Gleichzeitig erweiterte man das Monitoring auf weitere Viren: Influenza A und B sowie RSV.
Schwierige Vergleichbarkeit wegen Messmethodenwechsel
Das Problem: Die Messungen erfolgen heute zwar vollständig an der Eawag. Doch zwischenzeitlich, als das Netz siebenmal grösser war, analysierten auch private und kantonale Labors die Proben. «Diese verwendeten alle unterschiedliche Aufbereitungs- und Messmethoden», sagt Christoph Ort. Von den 14 ARA, die heute im Monitoring sind, betreut die Eawag acht ARA erst seit Juli 2023. Bei diesen kam es deswegen zu einem Methodenwechsel, weshalb bei diesen der Vergleich zu vorher schwierig ist.
Zum Beispiel bei der ARA Vidy in Lausanne. Dort ist die Viruslast wegen der Methodenänderung derzeit ähnlich hoch wie bei der grossen zweiten Welle mit der ersten Omikron-Variante Anfang 2022. Damals wurde ein Grossteil der gesamten Schweizer Bevölkerung krank – eine Situation, von der wir heute weit entfernt sind. Auch der derzeitige Anstieg der Messwerte erscheint wegen der Methodenanpassungen dramatischer.
«Bei den Daten aus Lausanne und anderen ARA sind Vergleiche, die weiter zurückgehen als Juli 2023, nicht direkt möglich», räumt Ort ein. Betroffen sind auch die Kläranlagen-Messungen in den Kantonen Neuenburg, Jura, Luzern, Schwyz, Basel, Bern (ausser ARA Sensetal Laupen) und Solothurn. Das BAG zeigt in einem neuen Dashboard deshalb nur noch die Werte ab Juli 2023. Dadurch ist bei allen der deutliche Anstieg der Viruslast seit Sommer zwar besser erkennbar – jedoch nicht, wie gross die Virenbelastung im Vergleich zu früheren Wellen ist.
Verpasste erste Omikron-Welle
Bei sechs ARA, die schon lange mit der gleichen Methodik gemessen werden, sind die Daten weiter zurück vergleichbar. Doch stellt sich hier ein zweites Problem, das sich bereits Anfang 2022 mit der allerersten Omikronwelle zeigte. Damals fiel die Viruslast im Abwassermonitoring deutlich geringer aus, als aufgrund der Fallzahlen zu erwarten war.
Warum ist bis heute nicht klar. Die Messmethodik wurde jedenfalls seither nicht grundlegend verändert. «Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass damals mehrheitlich Junge und Geimpfte infiziert waren, die dann weniger Virenfragmente ausgeschieden haben», sagt Christoph Ort. Es scheidet ohnehin nur rund jeder zweite Infizierte Sars-CoV-2-Fragmente im Stuhl aus. Je nach Virusvariante sowie Immunität und Alter der Infizierten kann dies jedoch anders sein. Das Gleiche gilt für die ausgeschiedene Virenmenge pro infizierter Person. Und: Auch Genesene könnten weiter Viren ausscheiden, was Rückschlüsse auf einen Verlauf der Ansteckungen zusätzlich erschwert.
«Wir sind deutlich von der umfassenden Überwachung während der Pandemie entfernt.»
Ein dritter Faktor schränkt die Aussagekraft des Abwassermonitorings ein: die Meldeverzögerungen. Zwar ist der Weg von der Toilette bis zur Kläranlage mit ein bis zwei Stunden kurz. Doch die 24-Stunden-Tagesproben werden nur einmal pro Woche in einem Sammelpaket an die Eawag zur Analyse geschickt und dort abgearbeitet. Die Messungen verzögern sich dadurch je nach Wochentag zwischen drei bis neun Tage. Das BAG-Dashboard wird wiederum wöchentlich aktualisiert, was den zeitlichen Abstand weiter vergrössert.
Trotz all dieser Einschränkungen ist Urs Karrer zuversichtlich: «Wir sind zwar deutlich von der umfassenden Überwachung während der Pandemie entfernt», sagt der Mediziner. «Das Abwassermonitoring eignet sich jedoch gut, um Trends zu erkennen und den Langzeitverlauf der Viruszirkulation zu verfolgen.» Es sei eine wertvolle Ergänzung zu anderen Überwachungsdaten. «Insgesamt hat sich die Überwachung respiratorischer Viren in der Schweiz im Vergleich zu 2019 stark verbessert.»
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