Der neue Ski-Stern«Sie ist die Mikaela Shiffrin der Schweiz»: Ski-Legenden über Slalomsiegerin Camille Rast
Sonja Nef, Marc Girardelli, Karin Roten und Didier Plaschy sagen, was sie vom Aufstieg der Walliserin halten. Und vergleichen sie mit den Grössten.

Sonja Nef (52), Weltmeisterin und 15-fache Weltcupsiegerin
«Dieser Slalom von Camille Rast war phänomenal. Es ist sensationell, wie sie fährt, wie sie angreift. Als sie nach dem ersten Lauf schon nah dran war, dachte ich: Die wird gefährlich. Denn sie hat etwas, was man nicht lernen kann: Killerinstinkt. Das hat sie im zweiten Lauf bewiesen, sie zitterte ihn nicht hinunter, sondern zog voll durch. Da blüht mein ehemaliges Rennfahrerinnen-Herz auf. Gerade bei einer Athletin wie ihr, die schwere Zeiten durchmachen musste mit dem Pfeiffer’schen Drüsenfieber, dem Kreuz- und Innenbandriss, ihrer Depression, ist es richtig schön, wenn sie dann glänzt.
Ich bewundere Sportlerinnen noch mehr, die einen solchen Weg hinter sich haben. Sie sind nicht mehr so jung, und der Erfolg passiert nicht einfach so. Nein, Camille hat eine harte Vergangenheit hinter sich und musste unten durch. Ein Triumph leuchtet da noch heller. Der Sieg muss für Camille auch eine riesige Genugtuung sein. Dass sie es trotz allem an die Spitze geschafft hat, zeugt von einer riesigen Persönlichkeit, von einer grossen Kämpferin, und nicht nur von einer talentierten Athletin.
Zu Beginn der Saison hatte sie noch etwas Wettkampfglück, das braucht es eben auch. So fand sie in einen Flow hinein. Dieser Start war für das ganze Team wichtig, auch für die Europacupfahrerinnen, für den ganzen Nachwuchs, das gibt Ruhe. Dass es schon jetzt so läuft, ist Gold wert für den ganzen Winter. Und die Arrivierten merken: Oh, jetzt kommen die Jüngeren und fahren uns um die Ohren. Diese Dynamik ist wesentlich, der Teamgeist scheint zu stimmen.
Wer einmal gewinnt, darf nur nicht meinen: So, jetzt bin ich die Beste. Nein, sie ist dann die Gejagte und muss noch mehr tun, um vorne zu bleiben, noch fokussierter arbeiten. Aber ich glaube, dass Camille mit ihren 25 Jahren und dem Erlebten die Reife dafür hat. Wenn sie gesund bleibt, traue ich ihr alles zu. Wirklich alles.»
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Marc Girardelli (61), fünffacher Gesamtweltcupsieger
«Bei meinem ersten Treffen mit Camille wurde mir sofort klar: Da steht eine Frau vor mir, die weiss, was sie will. Es war vor zwei Jahren in Flachau, ich fuhr das Legendenrennen von Hermann Maier, sie tags darauf den Weltcupslalom. Sie hatte damals keine leichte Zeit, schaffte es gerade noch in die Top 20. Aber ich spürte, dass sie selbst mit Platz 10 nicht zufrieden gewesen wäre. Das unterscheidet sie von vielen anderen Fahrerinnen, die vergleichsweise genügsam sind.

Neben Mikaela Shiffrin ist derzeit wohl niemand anderes mit einem solch unerschütterlichen Selbstvertrauen unterwegs wie Camille. Ich sehe bei ihr keinerlei Selbstzweifel, sondern nur die Bereitschaft, voll zu attackieren und damit auch mal einen Ausfall in Kauf zu nehmen. Wobei: Ihre Technik ist so gut, dass die Ausfallquote sehr, sehr tief ist – in den letzten 50 Weltcuprennen ist sie nur zweimal ausgeschieden. Selbst auf der extrem eisigen Piste in Killington wirkte sie enorm sicher, es war verblüffend, wie fehlerlos sie unterwegs war.
Ich habe gehört, dass Camille früher eine Zirkusschule besuchte und dort auch das Seiltanzen lernte. Das erinnert mich an Ingemar Stenmark, der in den Siebzigern damit anfing. Weil er fast immer gewann, balancierten auf einmal alle auf dem Seil. Ob es nützte, weiss ich nicht. Aber bei Camille ist das Spielerische zu beobachten, die Wendigkeit und Athletik, da hat diese Ausbildungsform sicher geholfen. Ich traue ihr viel zu, der erste Sieg wird kaum der letzte gewesen sein.»
Karin Roten (48), dreifache WM-Medaillengewinnerin
«Zum Saisonstart im Riesenslalom von Sölden wurde Camille zwar nur Zwölfte, aber schon da dachte ich: Wow, da ist etwas passiert über den Sommer. Ihre Technik war schon immer einwandfrei, doch nun ist sie mit einer ganz anderen Körpersprache unterwegs als in den letzten Saisons.
In Killington hat Camille natürlich von den Absenzen von Mikaela Shiffrin und Petra Vlhova profitiert. Aber ihren Erfolg schmälert das überhaupt nicht. Schon nach dem ersten Slalomlauf war ich mir sicher, dass sie das Ding nach Hause schaukeln wird. Sie fährt kompromisslos, genau so, wie man das mit den heutigen Ski tun muss. Zudem hat sie ihren eigenen Stil, will niemanden kopieren.

Ihr Markenwechsel 2022 von Head zu Salomon war keine gute Entscheidung, ein Jahr lang klappte danach fast nichts. Aber es ist eine Qualität, einen Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Ohnehin scheint Camille ein sehr reflektierter Mensch zu sein. Es war enorm stark, wie sie vor einigen Jahren über ihre schwere Depression gesprochen hat. Sich zu öffnen, war sicher der richtige Schritt. An ihrem Beispiel zeigt sich eindrücklich, wie wichtig es ist, dass die Trainer in der täglichen Arbeit nicht nur die Athletin sehen, sondern eben auch den Menschen dahinter.
Camille wirkt sehr geerdet, sie scheint nun auch nicht zu überborden mit positiven Emotionen. Deshalb wird sie ihre Erfolge auch gut verarbeiten können. Früher ging sie wohl etwas gar hart mit sich ins Gericht, wenn es nicht lief, stand sich fast selbst im Weg. Nun ist sie mental stabil und macht ihr Ding.»
Didier Plaschy (51), Ex-Slalomspezialist und SRF-Experte
«Für mich ist Camille die Mikaela Shiffrin der Schweiz. Kraft, Grösse, Fahrstil, das alles ist identisch. Jetzt muss sie nur noch die Ruhe finden, die Shiffrin auszeichnet. Sie macht noch viele Bewegungen, ist am Pumpen, ich denke, das wird sich beruhigen, wenn das Material noch besser abgestimmt ist. Schliesslich hat sie ja erst im Vorjahr auf ihre ehemalige Marke zurückgewechselt.
Camille hat noch viel Potenzial. Ihr unterlaufen auch noch Fehler, etwa in Levi, wo sie gleich vier davon macht – und doch noch Fünfte wird. Solche Rennen sind auch sehr wichtig. Shiffrin hat wohl 80 Prozent ihrer Rennen mit nur 80 Prozent ihres Potenzials gewonnen. Rast ist auf einem ähnlichen Weg. Natürlich, am Sonntag hat sie mit 100 Prozent im zweiten Lauf gewonnen, aber sie hatte auch über eine halbe Sekunde Vorsprung. Sie weiss, dass sie noch viele Rennen gewinnen kann, sie muss nur spüren, wie viel es braucht dafür.

Camille war im Wallis schon ein Begriff, als sie 14 war. Allerdings stand sie damals noch etwas im Schatten von Mélanie Meillard. Bei der Juniorinnen-WM 2017 drängte sie sich mit Gold im Slalom aber in den Vordergrund.
Ich habe einmal gesagt, Camille werde alles in Grund und Boden fahren. Dabei bleibe ich, auch wenn es ein paar Talente gibt wie etwa die Amerikanerin Elisabeth Bocock oder Lara Colturi, die für Albanien fährt. Sie sind ebenso angriffig unterwegs und bringen eine ähnliche Dynamik mit wie Rast. Sie alle wandeln auf den Spuren von Shiffrin. Und ich bin überzeugt, dass das der richtige Weg ist, denn heute sind vermehrt filigrane Athletinnen gefragt.
Für mich geht es beim Skifahren auch um Ästhetik, dann bleibt mein Auge auf einem Fahrer oder einer Fahrerin drauf – und bei Rast ist es so, da bin ich voll fokussiert und hellwach, weil ich verstehen will, was sie macht auf den Ski. Mit ihren 56 Kilogramm bringt sie eine grosse Dynamik hin: gehen lassen, wieder auffangen, das sieht bei zierlichen Fahrerinnen interessant aus, weil sie sich mehr bewegen müssen als kräftigere.
Rast wird nicht gleich 100 Siege schaffen wie Shiffrin, sie ist auch schon 25. Aber sie kann uns allen noch viel Freude machen mit ihrem Skifahren, wenn sie gesund, hungrig und neugierig bleibt.»
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