Reform des SchuldbetreibungsgesetzesNeues Sanierungsverfahren soll Schuldenspiralen verhindern
Tito Ries ist seit 29 Jahren verschuldet. Ein neues Sanierungsverfahren soll Menschen wie ihm künftig nach einer Frist von drei Jahren ermöglichen, ihre Schulden zu tilgen.

- Über 400’000 Personen in der Schweiz sind verschuldet, viele seit über zehn Jahren.
- Der Bundesrat will ein Sanierungsverfahren einführen, um Restschulden nach drei Jahren zu tilgen.
- Gegner kritisieren, dass das Verfahren zulasten der Gläubiger geht.
Heute hat Tito Ries 330’000 Franken Schulden. Erstmals verschuldet hat er sich 1996, als seine Personalvermittlungsfirma aufgrund von Debitorenverlusten Konkurs machte. Die Löhne der Arbeitnehmenden konnte Ries noch bezahlen, die Sozialleistungen aber nicht. Als Geschäftsführer haftete er: «Die Schulden der Firma – 250’000 Franken – wurden auf mich übertragen», erzählt Ries bei einem Besuch in seiner Wohnung in Basel.
Ries versuchte, seine Schulden zurückzuzahlen. Er hatte verschiedene Jobs als Generalunternehmer und Versicherungsmakler, arbeitete teils temporär. Doch wie alle, die in der Schweiz betrieben werden, musste Ries alles Einkommen über dem «betreibungsrechtlichen Existenzminimum» an die Gläubiger abtreten.
Betroffene gelangen in eine Schuldenspirale
Tito Ries ist kein Einzelfall. Stand Mai letzten Jahres waren schweizweit mehr als 400’000 Menschen verschuldet. 51 Prozent der Betroffenen sind mehr als sechs Jahre, 26 Prozent mehr als zehn Jahre verschuldet. Das zeigt eine Statistik der Schuldenberatung Schweiz, des Dachverbands der gemeinnützigen Fachstellen für Schuldenberatung.
Wem nämlich als Lebensgrundlage nur das Existenzminimum zur Verfügung steht, verschuldet sich häufig weiter, etwa um die Steuern oder Krankenkassenprämien bezahlen zu können. Viele Betroffene entwickeln gesundheitliche Probleme: Überschuldete Personen leiden erwiesenermassen häufiger an Depressionen und chronischen Krankheiten.
Auch Tito Ries’ Situation verschlechterte sich, als sich 2001 seine Frau von ihm trennte. Zu seinen Schulden kamen Unterhaltszahlungen hinzu, seine Kinder durfte er acht Monate lang nicht sehen. Ries vereinsamte, er litt unter einer Depression, rutschte mit 40 ab in die Alkoholsucht. Er wurde obdachlos und «im Suff» gewalttätig, wie er selbst sagt. Zweimal musste er ins Gefängnis. Mit den Gerichtskosten und aufgrund von Steuereinschätzungen wuchs sein Schuldenberg: «Es ist ein Teufelskreis», sagt Ries.
Schuldentilgung auch in der Schweiz?
Um Schuldenspiralen zu verhindern, kennen viele Länder ein Restschuldbefreiungsverfahren. Das bedeutet: Nach einer Frist werden alle übrigen Schulden getilgt. Die Möglichkeit auf Schuldentilgung soll nun auch in der Schweiz eingeführt werden. Am Mittwochmorgen diskutierte der Bundesrat über eine Gesetzesänderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG).
Der Bundesrat will ein Sanierungsverfahren für überschuldete Privatpersonen einführen. Nach einer Frist von drei Jahren würden die Restschulden verfallen. Zuvor müssten sich die Schuldner wie bisher um ein regelmässiges Einkommen bemühen und alle Einkünfte über dem Existenzminimum an die Gläubiger abgeben.
Die Schuldenberatung Schweiz setzt sich seit Jahren für die Einführung eines Sanierungsverfahrens ein. «Viele Verschuldete leben quasi in einem Gefängnis», sagt Pascal Pfister, Geschäftsleiter der Schuldenberatung Schweiz: «Nur schon die Aussicht auf Schuldentilgung könnte ihren Gesundheitszustand verbessern.» Auswertungen von Sanierungsverfahren in Deutschland und Österreich bestätigen Pfisters Einschätzung.
Nachlassverfahren und Privatkonkurs sind häufig keine Optionen
Für private Schuldner gibt es zwar heute schon die Möglichkeit, sich mit den Gläubigern auf den Erlass der Schulden zu einigen: Das nennt sich ein Nachlassverfahren – und das soll im Rahmen der vorliegenden Gesetzesänderung ebenfalls vereinfacht werden. Doch für einen Nachlass braucht es eine Gläubigermehrheit, und die kommt selten zustande.
Für Tito Ries war ein Nachlassverfahren ebenfalls keine Option: Das erfuhr er, als er 1998 bei der Schuldenberatung Basel Hilfe suchte. Auch einen Privatkonkurs konnte er nicht anmelden, denn dafür hätte er zuvor mehrere Jahre fest angestellt gewesen sein müssen.
Ries hält das geltende Schuldbetreibungsrecht insgesamt für «menschenverachtend». Es wundere ihn nicht, wenn Betroffene resignierten: Auch er selbst habe es zeitweise aufgegeben, etwas an seiner Situation zu ändern. Das sei sicherlich auch dem destruktiven Umfeld «auf der Gasse» geschuldet gewesen, so Ries, aber: «Man muss doch den Leuten eine Perspektive geben.»
Der Staat profitiert von einem Schuldenschnitt
Die neue Schuldentilgung solle Betroffenen einen Neustart ermöglichen: «Überschuldete Privatpersonen verdienen eine zweite Chance», so der zuständige Bundesrat Beat Jans an der Medienkonferenz heute Nachmittag. Und: Die Aussicht auf Besserung soll die Arbeitsmotivation betroffener Personen erhöhen, deren Lohn gepfändet wird.
Die öffentliche Hand würde laut Bundesrat ebenfalls von der Einführung eines Sanierungsverfahrens profitieren. Aufgrund von ausstehenden Steuerforderungen und weil die Kantone die Kosten nicht bezahlter Krankenkassenprämien tragen, ist der Staat für viele Verschuldete Hauptgläubiger. Dank des Sanierungsverfahrens müssten Kantone und Gemeinden ausstehende Steuerforderungen nicht mehr abschreiben, sondern die Betroffenen könnten längerfristig ihre Steuer- und Krankenkassenrechnungen wieder regulär begleichen.
Die Schuldenspirale kann zusätzlich Kosten verursachen, weil 60 Prozent aller verschuldeten Personen Sozialhilfe beziehen. So auch Tito Ries. Er kostete den Staat laut eigenen Aussagen in den letzten 25 Jahren rund zwei Millionen Franken. «Das Loch war am Anfang 250’000 Franken, heute sind es zwei Millionen», so Ries: «Aber das Loch hat sich von mir auf den Staat verschoben.»
So liessen sich durchaus auch bürgerliche Politiker davon überzeugen, dass die Einführung eines Mechanismus für die Restschuldbefreiung sinnvoll sei, sagt Pascal Pfister von der Schuldenberatung. Im Vernehmlassungsverfahren lehnte nur die SVP den Gesetzesentwurf grundsätzlich ab.
Inkasso Suisse wehrt sich gegen das Sanierungsverfahren
Neben der Volkspartei gehört der Verband Inkasso Suisse zu den wenigen Gegnern der Reform: «Ein solches Sanierungsverfahren geht voll zulasten der Gläubiger», sagt Raoul Egeli, Vizepräsident von Inkasso Suisse.
Die Gläubiger könnten keinen Einfluss nehmen auf das Sanierungsverfahren. Für Egeli bedeutet das: Sie wären gezwungen, ihre Forderungen aufzugeben. Der Verband Inkasso Suisse spricht gar von Enteignung der Gläubiger.
Egeli fordert eine klarere Abgrenzung von ver- und überschuldeten Menschen. Ein Sanierungsverfahren dürfe nur «NINAs» zugutekommen: Der Fachbegriff aus der Inkassobranche steht für «no income, no assets». «NINAs» sind also diejenigen Personen, die kein Einkommen über dem Existenzeinkommen haben – und deshalb ihren Gläubigern keine Rückzahlungsquote «anbieten» können, wie es im Fachjargon heisst.
Hohe Forderungsausfälle für Gläubiger
Doch der Bundesrat habe im Gesetzesentwurf zu tiefe Hürden gesetzt: «So könnte jeder, der Zahlungsprobleme hat, ein solches Sanierungsverfahren abrufen», sagt Raoul Egeli. Die Forderungsausfälle für die Gläubiger wären hoch: Inkasso Suisse rechnet mit mehr als 62 Millionen Franken Einbussen bei einer Restschuldbefreiung nach vier Jahren, nun soll die Frist sogar noch ein Jahr kürzer sein.
Pascal Pfister von Schuldenberatung Schweiz hingegen glaubt, die Abschöpfungsphase von drei Jahren sei lange genug: «Wenn es etwas zu holen gibt, erhalten die Gläubiger auch etwas.» In vielen Fällen sei es schon heute so, dass die Gläubiger kaum Aussicht auf Rückzahlung ihrer Forderungen hätten.

Der bundesrätliche Gesetzesvorschlag kommt nun ins Parlament. Wenn er durchkommt, müssen die kommunalen Betreibungsämter die Änderungen einführen. Bis das neue Verfahren zur Anwendung kommt, wird es noch einige Jahre dauern.
Tito Ries lebt heute von den knapp über 1000 Franken, die ihm die Sozialhilfe monatlich bezahlt, sowie von circa 250 Franken Nebeneinkünften von seiner Arbeit bei «Surprise». Er hat sich mit seiner Situation abgefunden.
Für die nächste Generation hofft Ries, dass das Sanierungsverfahren im neuen Gesetz durchkommt. «Ein Restschuldbefreiungsverfahren hätte all meine Probleme gelöst», so Ries: «Für Betroffene wäre es eine Erlösung.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.