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Meinung

Abschied einer kritisierten Generation
Liebe Boomer, unsere Zeit ist vorbei

Just the sight of The Beatles from a distance caused this reaction among a group of Girls at the Los Angeles International airport in this Aug.18, 1964 photo. Airport security kept the British singers away from several thousand youngsters during a brief stopover in Los Angeles en route to San Francisco. (AP Photo/stf)
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«Abschied von den Boomern» heisst das neue Buch des bekannten deutschen Soziologen Heinz Bude. Er ist selbst einer, Jahrgang 1954. Ich bin auch ein Boomer, geboren 1955. Das weiss ich allerdings erst, seit dieses Wort berüchtigt, ja zum Schimpfwort geworden ist. «Okay, Boomer», warf 2019 eine neuseeländische Abgeordnete einem älteren Kollegen hin und wollte ihn damit als einen Vertreter eines Typus blossstellen, der keine Ahnung hat, aber den Jüngeren die Redezeit, ja überhaupt die Plätze wegnimmt.

«Okay, Boomer», schallte es in der Folge überall den Älteren entgegen, in der Schweiz avancierte es zu einem der Wörter des Jahres. Es wurde zum Kampfruf in einem neuen Generationenkonflikt um Positionen und Ansehen. «Okay, Boomer» hiess im Klartext: Abtreten, Boomer, eure Zeit ist vorbei. Das war und ist nicht angenehm zu hören.

Etwa 200 junge Leute demonstrieren am 12. August 1967 vor dem Cafe Odeon in Zuerich, Schweiz. Frauen, welche einen Minirock tragen ist der Zutritt zum "Literatencafe" Odeon nicht gestattet, obwohl im oberen Stockwerk auch Striptease angeboten wird. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Walter Keller)

Wer sind wir überhaupt? Boomer – das ist die Kurzform für Babyboomer. Gemeint sind die geburtenstarken Jahrgänge. In Westeuropa, auch in der Schweiz, sind das grosso modo die zwischen 1946 und 1964 Geborenen. Wir sind die Generation, die jetzt aus dem Arbeitsprozess ausscheidet oder schon ausgeschieden ist. Die also genau das tut oder getan hat, was die Nachrückenden, die Generation X (Geburtsjahrgänge 1965 bis 1980) und Y (Geburtsjahrgänge 1981 bis 1996, die Millennials) beziehungsweise ihre militanten Vertreter, von ihnen fordern: abtreten.

Strapazierte Altersvorsorge

Nur löst das zwar ein Problem (Platz machen für die Nächsten), schafft aber ein neues: Da wir Boomer so viele sind, strapazieren wir das Rentensystem mit AHV und Pensionskasse, in das dann die zahlenmässig geringeren Generationen einzahlen müssen, aufs Äusserste. Zu der finanziellen Belastung kommt die ökologische, aus der manche uns Boomern gern einen moralischen Strick drehen.

Sind wir es nicht, die den Planeten ruiniert haben, durch unseren verschwenderischen Lebensstil, unseren Ressourcenverbrauch, unsere Gier nach immer mehr? Fällt der massive Anstieg der CO2-Konzentration in den letzten Jahrzehnten nicht genau in die aktive Zeit unserer Generation? Hinterlassen wir den XY- und Zlern nicht eine ausgeplünderte, überhitzte, bald lebensfeindliche Erde? Ist «Okay, Boomer» nicht viel zu mild als Slogan, muss man uns nicht geradewegs den Prozess machen?

Nun, das ist ein allzu simpler Gedanke. Schuld kann immer nur eine individuelle Kategorie sein, und «Generation» umfasst als soziologischer Begriff viele Millionen Einzelne mit unterschiedlichem Bildungshintergrund, Sozialisation, Lebenslauf, Charakter, Verhalten.

Natürlich verbindet uns geburtenstarke Jahrgänge aber vieles, was uns von den vorangehenden (der «stillen Generation», die noch vom Krieg geprägt war) und den nachkommenden deutlich unterscheidet. Wir sind in einer Zeit zunehmenden Wohlstands aufgewachsen, haben erlebt, dass Bildung für breite Schichten zugänglich wurde. Die Gesellschaft wurde offener, vielfältiger, toleranter; Frauen verlangten und bekamen mehr Rechte und Chancen als je zuvor; Medien, vor allem das Fernsehen, und Reisen erweiterten den Horizont. Wahrscheinlich hatte keine Generation zuvor so viele Wahlmöglichkeiten, ist es keiner Generation im Ganzen betrachtet so gut gegangen wie uns Boomern.

Kalter Krieg und Kubakrise: Die Bedrohung war da

Aber genau das zu wissen, gehört auch zum Boomer-Bewusstsein – bis hin zum schlechten Gewissen. In meinem protestantischen Elternhaus hiess es, wenn uns das Essen nicht schmeckte: «Iss auf, denk an die armen Kinder in Indien, die wären froh!» Die Elterngeneration in Deutschland hatte Diktatur, Krieg, Zusammenbruch und Hunger erlebt, in der Schweiz immerhin Kriegsgefahr und Mangel. Für uns ging es immer nur aufwärts, dafür mussten wir doch dankbar sein.

Der ehemalige U.S. Praesident John F. Kennedy waehrend einer Ansprache zur Kubakrise am 2. November 1962 in Washington, DC. (KEYSTONE/AP Photo/Str) === ===

Allerdings: Die Bedrohung war da, der Kalte Krieg in Kindheit und Jugend sehr präsent. Meine erste politische Erinnerung war die Kubakrise 1962. So nah am Rande eines Weltkriegs fühlten wir uns 20 Jahre später wieder, bei der Nachrüstungsdebatte, als die gegenseitige Vernichtung innert weniger Minuten plötzlich ein realistisches Szenario war. Endzeit-Gefühle kennen wir nicht erst, seit wir von der drohenden Klimakatastrophe wissen. Nur mit den Konsequenzen ist das so eine Sache.

Was wir Boomer für die XYZer-Generationen sind, das waren für uns die 68er. Sie sassen uns vor der Nase. Sie hatten einiges aufgebrochen an Verkrustungen in der Gesellschaft, in Familien, Universitäten und Betrieben. Wir wuchsen schon in liberalere Schulen, lockere Umgangsformen hinein und durften den Rasen betreten. Aber sie nervten auch an den Unis mit ihren doktrinären Parteikämpfen, und sie sassen, als sie die Revolution aufgegeben und den Marsch in die Institutionen angetreten hatten, bald überall dort, wo wir einmal hinwollten. Und da sie jung waren, würden sie noch sehr lang dort sitzen. Anders als sie wollten wir die Welt nicht verändern, wir wollten erst mal einen Platz in ihr finden.

Unser Problem als geburtenstarke Jahrgänge: Wir waren viele. Immer und überall. Als ich ins Gymnasium kam, sassen wir zu 45 in einer Klasse. An der Universität gab es oft zu wenig Stühle für zu viele Studenten. Zu wenige Professoren für Sprechstunden und Prüfungstermine. Und im Beruf: die Eingänge verstopft. Wer eine Chance bekam, gab alles. Arbeit war zentral in unserem Leben. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit hat viele begleitet, bis zur Pensionierung.

Eine unideologische Generation

Die Konkurrenz war gross, und sie ging weiter. Sie war auch deshalb gross, weil zum ersten Mal auch die Frauen dazu gehörten. Sie machten dieselben Ausbildungen, studierten dieselben Fächer, waren ebenso gut, oft besser. Und sie forderten uns heraus: Wer nicht die gerade angesagten feministischen Texte gelesen, die entsprechenden Diskurse draufhatte, war abgemeldet.

Die 68er waren Paschas, trotz ihrer emanzipatorischen Rhetorik. Wir Boomer-Männer lernten Gleichberechtigung, auch das als erste Generation – und dass starke Frauen zwar manchmal anstrengend sein konnten, aber auch manches leichter machten. Wir mussten nicht mehr allein stark sein (oder so tun). Dafür als Paar, als Familie vieles immer neu erfinden und aushandeln.

Wir waren eine unideologische Generation, wir sind es immer noch, deshalb reagieren wir auch gereizt auf die neuen Zumutungen aus der identitätspolitischen oder der sprachpolitischen Ecke, in denen wir die alten doktrinären Geister wieder auferstehen sehen. Denn in Sachen Sensibilität für die Benachteiligten, die Unterdrückten, für die Dritte Welt, fühlen wir uns nicht belehrungsbedürftig. Waren wir doch gut informiert darüber, wie es jenseits von unserem Wohlstandskontinent Europa zugeht, durch Zeitungslektüre, Fernsehen, in Dritte-Welt-Gruppen oder vor Ort – viele von uns sind, als wir jung waren, mit dem VW-Bus nach Indien gefahren oder durch Südamerika getrampt.

Auch wer zu Hause blieb, wusste: Kaum jemandem geht es so gut wie uns Boomern hier in der Schweiz, in Westeuropa. Und es war uns klar, dass das nicht unser Verdienst ist, weder unser persönliches, noch weil die Schweiz so ein fantastisches System sei, das doch jedes Land einfach kopieren müsse, damit es ihm ebenso gut gehe. Es sind glückliche, auch historische Umstände dafür verantwortlich, auf Kosten anderer, auch Zukünftiger. Auch dass wir über unsere Verhältnisse leben, ökologisch betrachtet, war uns klar, seit 1970 der Bericht des Club of Rome über die «Grenzen des Wachstums» herauskam. In der Schülerzeitung meines Gymnasiums wurde dieser Bericht seinerzeit vorgestellt, da kam auch der Treibhauseffekt schon vor.

Müssten wir gegen uns selbst protestieren?

Man kann jedenfalls nicht sagen, wir Boomer hätten nicht gewusst, dass unser ökologischer Fussabdruck zu gross ist – auch wenn wir den Begriff erst später kennen gelernt haben. Auch wenn es eine Erkenntnis ist, die sich erst schleichend Raum in unserem Bewusstsein geschaffen hat. Das «unglückliche Bewusstsein» – ein Begriff, den ich erstmals von Adolf Muschg 1981 in einem Vortrag gehört habe – begleitet viele von uns seit langem.

Atomkraftwerkgegner demonstrieren vor dem AKW Goesgen gegen das geplante AKW Graben am 25. Mai 1980. (KEYSTONE/Arno Balzarini)

Wir Boomer sind ja keine unpolitische Generation, wir haben gegen die Atomkraft, gegen die Nachrüstung protestiert, jetzt gerade gehen wir mit den Jüngeren gegen den Rechtsextremismus auf die Strasse. Aber müssten wir nicht gegen uns selbst protestieren? Und klingt das nicht absurd?

Unseren Lebensstil haben wir bei aller Einsicht nicht konsequent geändert, sondern – höchstens etwas abmoderiert – weiter gepflegt. Weniger fliegen, kein Fleisch essen, das Auto abschaffen, Wärmepumpen und Solarmodule installieren: Das sind individuelle Lösungen, die eine Generation der Individualisten wählen kann. Aber sie bewirken wenig gegen das, was in grossem Massstab global getan werden müsste, um die Erwärmung der Atmosphäre vielleicht noch aufzuhalten, und das Wissen darum verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit.

Jetzt seid ihr dran!

Und ist nicht unser Lebensstil, so schädlich er ist, gewissermassen systemimmanent? Radikalen Konsumverzicht in grossem Stil hielte unser Wirtschaftssystem nicht aus. Und die zu erwartenden Verteilungskämpfe die politischen Systeme nicht. Allerdings wird das gegenwärtige Nichts- oder Wenigtun letztlich noch teurer … «Es gibt kein richtiges Leben im falschen», sagte Adorno. Ein zu Tode zitierter Satz, der auch nicht weiterhilft.

Eine übrigens sehr wirkungsvolle Art der Boomer, unseren Fussabdruck zu verringern, nämlich weniger Kinder in die Welt zu setzen als unsere Eltern, schafft ja, wie gesehen, neue Probleme. Dies nur als kleine Pointe im grossen Dilemma.

Wir treten ab. Ihr seid jetzt dran, Generation X und Ypsilon und Zett – ihr seid ja schon längst am Ruder. Wir hinterlassen euch eine Welt voller Krisen und Probleme, unser Lebensstil ist mitverantwortlich dafür. In diesen Lebensstil seid ihr hineingewachsen, ihr praktiziert ihn ebenfalls ganz gern – seid ehrlich. Hinterlassen haben wir euch aber auch die bestmögliche Ausbildung, die umfassendsten Informationsmedien, nützliche Erfindungen, ein kritisches Bewusstsein – und einsichtige Vorgänger. Meistens jedenfalls. Vielleicht macht ihr es besser.

Zeigt es uns! Wir wünschen euch viel Glück dabei.