Fragwürdiger Gesundheitstrend«Wir erleben gerade einen Glukose-Hype»
Das Messen des Glukosespiegels mit Apps wird immer populärer. Diabetologe Bernd Schultes warnt jedoch vor den Gefahren einer übermässigen Überwachung des eigenen Körpers.
Herr Schultes, Apps, mit denen man seine Gesundheit überwachen kann, boomen. Ist es sinnvoll, wenn neuerdings gesunde Menschen ihren Blutzuckerspiegel mit Sensoren überwachen?
Kaum. Vor dem Hintergrund des heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes ist dies für gesunde Menschen nicht nötig. Aber selbstverständlich ist ein Überwachen des Zuckerspiegels mittels solcher Sensoren für Menschen mit Diabetes wertvoll, allenfalls auch für Personen mit einer Veranlagung für Diabetes.
(Lesen Sie hier den Selbsttest zum Thema: «Abnehmen und fitter werden durch Glukosetracking?»)
Aber können nicht auch Gesunde davon profitieren, wenn sie lernen, wie ihr Blutzuckerspiegel auf die Ernährung reagiert?
Selbst unter diesem Gesichtspunkt ist ein Glukose-Tracking bei Menschen, die einen gesunden Stoffwechsel haben, meiner Meinung nach nicht verhältnismässig. Mit dem Messen allein ist es ja nicht getan. Man muss diese Daten auch interpretieren. Für Laien kann dies schwierig sein, eine Beratung durch Fachpersonen ist angebracht. Am besten ist es ohnehin, generell auf eine ausgewogene und somit gesunde Ernährung zu achten; dafür braucht es keine Sensoren. Wenn man unbedingt etwas mit einer App überwachen will, dann am ehesten, ob man sich ausreichend bewegt.
Das Versprechen dieser Angebote ist, dass ich mich mit einem ausgewogenen Blutzuckerspiegel besser fühle. Besser schlafe, mich besser konzentrieren kann …
So lauten die Versprechen, ja. Dass das Wohlbefinden von gesunden Menschen direkt mit dem Blutzuckerspiegel zusammenhängt, ist jedoch wissenschaftlich nicht belegt – solange die Werte nicht auf eine Krankheit hinweisen. Es würde mich auch erstaunen, sollte es solch einen unmittelbaren Zusammenhang geben. Ein Beispiel: Selbst eine kurzfristige Unterzuckerung muss keine negative Konsequenz haben, da das Gehirn des Menschen über Glukosepuffer verfügt und Defizite überbrücken kann. Der Glaube an eine direkte Abhängigkeit des Wohlbefindens vom Glukoseniveau scheint mir problematisch.
«Eine zu starke Fokussierung der Wahrnehmung auf den eigenen Körper kann schädlich sein.»
Weshalb?
Zur Selbstvermessung mit Sensoren neigen meiner Erfahrung nach Menschen, die ohnehin sensibel sind, möglicherweise gar übersensibel. Ich kann mir vorstellen, dass solch ein Tracking psychosomatische Störungsbilder verstärkt. Eine zu starke Fokussierung der Wahrnehmung auf den eigenen Körper kann schädlich sein, da dann jede – auch normale – Veränderung Ängste und Verunsicherung auslöst. Dies kann sich immer mehr aufschaukeln und zu psychischen Problemen führen.
Wie genau messen diese Sensoren eigentlich?
Viele Geräte, die aktuell als Lifestyle-Gadgets vermarktet werden, sind ursprünglich Medizinalprodukte. Sie genügen strengen Qualitätsvorgaben und messen recht präzise. Weniger genau und weniger zuverlässig sind Technologien, die den Blutzucker messen, ohne zu stechen, etwa Infrarotsensoren.
Wie oft treten Komplikationen mit den Sensoren auf?
Dass Sensoren abfallen, passiert immer wieder. Besonders im Sommer, wenn man viel schwitzt. Das ist natürlich ärgerlich, diese Sensoren sind nicht billig. Selten sind Infektionen oder Blutungen, etwas häufiger allergische Reaktionen.
Viele, die den Blutzuckerspiegel tracken, hoffen, besser abnehmen zu können – trifft das zu?
Das ist ein Mythos.
Ein ausgeglichener, flacher Blutzuckerspiegel hat keinen Einfluss auf das Essverhalten?
Es gibt im Diätbereich unendlich viele Theorien, Ratgeber und Hilfsmittel. In vielen Fällen wird dabei um wenig wissenschaftliche Evidenz viel Marketing herumgebaut. Jetzt erleben wir gerade einen Glukose-Hype. Wie gesagt, Abnehmen mit Blutzucker-Tracking scheint mir ein Mythos. Natürlich kann man auf den glykämischen Index von Lebensmitteln achten, also auf ihren Einfluss auf den Blutzuckerspiegel. Aber dass solche Konzepte – etwa die sogenannte Glyx-Diät – zu einer nachhaltigen und dauerhaften Gewichtsabnahme verhelfen, dafür gibt es schlicht keine wissenschaftlichen Belege.
«Hinter dem Trend steht kaum der Wunsch, einer breiten Bevölkerung zu einer besseren Gesundheit zu verhelfen.»
Sie wirken sehr skeptisch…
Das Potenzial für die Anwendung dieser Glukosetracker im Lifestyle-Bereich ist sicher sehr gross, und die Branche springt auf den Trend auf. Dahinter stehen kommerzielle Interessen und nicht der Wunsch, einer breiten Bevölkerung zu einer besseren Gesundheit zu verhelfen, so würde ich mal vermuten. Was wir wissen: Oft sind es gerade ohnehin schon sehr gesund und bewusst lebende Menschen, die solche Daten über den eigenen Körper sammeln. Was möglicherweise ein positiver Nebeneffekt dieses Trends ist: dass die Sensoren besser und günstiger werden. Davon könnten dann auch Menschen mit Diabetes profitieren.
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