Analyse zu Bidens Rede vor dem KongressEine Antwort auf Corona und Trump – ein Seitenhieb gegen die Schweiz
Präsident Joe Biden stellt seine Pläne für die USA vor. Und den autokratisch geführten Staaten kündigt er den Kampf an.
Die «Schweine» hielten sich zurück. Kein Abgeordneter schüttelte Joe Biden die Hand, als er den Saal des Repräsentantenhauses betrat, kaum ein Senator klopfte ihm auf die Schultern. «Aisle hogs» nennen US-Journalisten jene besonders geltungssüchtigen Politiker (es sind meistens Männer), die sich bei der jährlichen Rede des Präsidenten vor dem Kongress um den Mittelgang scharen, den aisle. Sie warten dort jeweils, bis der Präsident den Weg zum Podium abschreitet, sie suchen den Körperkontakt und drängeln sich dabei selbst ins Bild.
Diesmal gab es keine Drängelei. Die Pandemie hat nicht nur dazu geführt, dass Bidens erste Rede vor dem Kongress deutlich später im Jahr stattfand, als dies sonst der Fall ist. Auch was das politische Theater angeht, den Pomp und die Feierlichkeiten, kam der Auftritt am Mittwochabend ganz anders daher als alle anderen. Nüchterner.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Die wenigen Parlamentarier, die eine Einladung erhielten, sassen verteilt im Saal, mit Masken im Gesicht. Die Gästetribüne war fast leer. 1600 Menschen wohnen der Rede normalerweise bei. Diesmal waren es bloss 200. Und statt Handshakes gab es bloss den Fist Bump, den Gruss mit der Faust.
Nach dem Abgrund der Aufbruch
All dies war speziell, besonders für Joe Biden. Es gibt keinen Politiker in Washington, der mehr dieser Reden erlebt hat als er. Als Senator sass er Dutzende Male im Publikum. Als der Präsident Ronald Reagan hiess, hielt Biden einmal die Gegenrede im Namen der Demokraten. Als Vizepräsident von Barack Obama war Biden jeweils direkt hinter dem Präsidenten zu sehen. Nun war Biden nach all dieser Zeit, im Alter von 78 Jahren, erstmals selbst die Hauptattraktion. Es war die bisher grösste Bühne, die er seit seiner Amtseinführung erhalten hatte.
Biden nutzte diese Bühne, um eine erste Bilanz seiner Präsidentschaft zu ziehen. Als er vor 100 Tagen den Amtseid ablegte, habe er die Führung einer Nation übernommen, die in einer tiefen Krise steckte, sagte Biden: «Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Grossen Depression. Die schlimmste Attacke auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg.» Das Land habe in einen Abgrund geblickt, sagte er später.
«Wir arbeiten wieder, träumen wieder, entdecken wieder und führen wieder die Welt an.»
Heute aber stünden die USA vor einem neuen Aufbruch. «Wir arbeiten wieder, träumen wieder, entdecken wieder und führen wieder die Welt an. Amerika ist wieder in Bewegung.» Er verwies auf die Erfolge des Impfprogramms, das dazu geführt hat, das sich faktisch jeder Amerikaner jetzt schon impfen lassen kann. Er verwies auf die Hilfszahlungen, die 85 Prozent der US-Haushalte erhalten haben, und über das Comeback der Wirtschaft. Und er sprach viel über seine innenpolitischen Pläne, die zu einem «Sieg über die Zukunft» führen würden.
Dass Biden ein solch rosiges Bild der Lage zeichnen würde, war nicht überraschend. Doch es stimmt: Das Ende der Corona-Krise scheint greifbar nahe. Es stimmt auch, dass der älteste US-Präsident in der Geschichte mit einem Tatendrang und einem Gestaltungswillen in seine Amtszeit gestartet ist, die ihm nicht einmal viele seiner treuesten Verbündeten zugetraut hatten. Für amerikanische Verhältnisse sind die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen, die Biden angekündigt oder sogar schon umgesetzt hat, ziemlich radikal – weil sie mit dem bis weit in die Mitte verbreiteten Dogma vom zurückhaltenden Staat brechen.
Ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket hat Biden bereits im März in Kraft gesetzt. Anfang April stellte er ein ähnlich grosses Infrastrukturpaket vor, das eine ökologische Wende in der Wirtschaft herbeiführen soll. Und nun, bei der Rede vor dem Kongress, sprach Biden viel über das dritte Paket, das er durch den Kongress bringen will: den «American Families Plan».
Kampf gegen die Ungleichheit
Auch bei diesem Paket geht es um gewaltige Summen. 1,8 Billionen Dollar will Biden damit in Familien, Kinderbetreuung und Bildung investieren. Damit soll das mit dem Corona-Hilfspaket eingeführte Kindergeld bis 2025 verlängert, die Schul- und Betreuungsangebote ausgebaut sowie eine bezahlte Elternzeit von 12 Wochen eingeführt werden. Die zweijährige Ausbildung an den praxisorientierten Community Colleges soll kostenlos werden.
Der Widerstand gegen dieses Paket ist schon jetzt absehbar. Das hat mit dem starken Ausbau des Sozialstaats zu tun, den Bidens Plan nach sich ziehen würde. Er erklärt sich auch mit den hohen Kosten. Und dann ist da die Tatsache, dass selbst einige Demokraten Mühe mit den Steuererhöhungen bekunden, die Biden zur Finanzierung vorschlägt.
Der Präsident stellte diese Steuererhöhungen in den Kontext der wirtschaftlichen Ungleichheit, die sich durch die Corona-Krise noch verschärft habe. «20 Millionen Amerikaner haben während der Pandemie ihren Job verloren. Gleichzeitig haben 650 Menschen in Amerika ihr Vermögen um vier Billionen Dollar gesteigert.» Er zitierte eine Studie, wonach 55 der grössten US-Konzerne vergangenes Jahr keine Bundessteuern bezahlt hätten. Damit müsse es ein Ende haben, sagte Biden: «Es ist Zeit, dass wir die Wirtschaft von unten und von der Mitte her zum Wachsen bringen.»
Bidens Seitenhieb auf die Schweiz
Und dann landete Biden auch noch einen kleinen Seitenhieb auf die Schweiz, die er in einem wenig schmeichelhaften Zusammenhang nannte. «Viele Unternehmen vermeiden Steuern durch Steueroasen von der Schweiz über die Bermudas bis zu den Cayman-Inseln. Sie profitieren von Schlupflöchern und Abzügen, die ihnen erlauben, Jobs auszulagern und Gewinne ins Ausland zu verschieben. Das ist nicht richtig.»
Hinter Biden sassen – erstmals in der Geschichte – zwei Frauen, die in regelmässigen Applaus ausbrachen: Vizepräsidentin Kamala Harris und Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses. Pelosi hatte vergangenes Jahr Donald Trump zuhören müssen, als der seine vierte und letzte Rede vor dem Kongress hielt. In einer viel kritisierten Aktion zerriss sie anschliessend eine Kopie des Redetextes. Diesmal war die Stimmung eine andere: Alles war ruhiger, versöhnlicher sogar.
«Amerikas Feinde sehen die Bilder des Mobs als Beweis dafür, dass die Sonne über unserer Demokratie untergeht.»
Biden erwähnte seinen Vorgänger nicht beim Namen. Aber er kam mehrfach auf den Sturm auf das Capitol zu sprechen, mit dem Trumps Anhänger am 6. Januar versucht hatten, Bidens Wahl noch zu stoppen. Er erwähnte den Wettstreit der Systeme, in dem sich die USA als wichtigste Demokratie mit den Autokraten der Welt befinden. Amerikas Feinde hätten am 6. Januar genau zugeschaut, sagte Biden: «Sie sehen die Bilder des Mobs, der das Capitol angegriffen hat, als Beweis dafür, dass die Sonne über der amerikanischen Demokratie untergeht.»
Das sei falsch, sagte Biden, und verknüpfte das mit einer Warnung. «Wir müssen beweisen, dass die Demokratie immer noch funktioniert. Dass unsere Regierung funktioniert – und für die Menschen Dinge bewirken kann.» Gelinge dies, dann würden die USA die grösste Herausforderung dieser Zeit meistern: «Zu beweisen, dass die Demokratie dauerhaft und stark ist. Den Autokraten gehört nicht die Zukunft. Die Zukunft gehört Amerika.»
Alles klar, Amerika? – der USA-Podcast von Tamedia
Den Podcast können Sie auf Spotify, Apple Podcasts oder Google Podcasts abonnieren. Falls Sie eine andere Podcast-App nutzen, suchen Sie einfach nach «Alles klar, Amerika?».
Fehler gefunden?Jetzt melden.