Proteste in Israel«Bibi, geh nach Hause»
Zehntausende protestieren in Israel gegen Premier Netanyahu. Und die Wut wächst. Dass sein Sohn das bunte Bündnis «Aliens» nennt, heizt die Lage weiter an.
Es sind Alte und Junge, Familien mit Kindern, es ist die Mittelklasse, die hier in Jerusalem auf die Strasse geht und für die Werte des alten Israel und für ihre Zukunft kämpft. «Bibi ha beita» lautet der Schlachtruf, «Bibi, geh nach Hause», und er ist gerichtet an Premierminister Benjamin Netanyahu. Schon in der zehnten Woche in Folge wird an diesem Samstagabend vor seiner offiziellen Residenz in der Jerusalemer Balfour-Strasse sein Rücktritt gefordert. Der Sabbat mag immer noch der Tag der Ruhe sein. Der Abend danach ist der Wut gewidmet.
Und die Wut wächst. Eine neue Rekordzahl an Teilnehmern wird in Jerusalem gemeldet. 20’000 Menschen sollen es mindestens sein, die sich hier drängen. Die Veranstalter sprechen sogar von 40’000. Dazu kommen noch die vielen Tausenden, die sich zeitgleich an anderen Orten versammeln.
Protest im ganzen Land
Die Welle hat das ganze Land erfasst, und zumeist entlädt sich die Wut über einen Regierungschef, der trotz eines laufenden Korruptionsprozesses nicht zurücktreten will, in einem bunten Happening. Zum Karneval in der Balfour-Strasse erscheinen die Menschen im Schimpansen- oder Schweinchenkostüm, auch eine Frau im leuchtenden Feenkleid ist dabei. Gefeiert wird jener Demonstrant, der sich eine Netanyahu-Maske übergestülpt hat und in Sträflingskleidung mit Handschellen auftritt. Maskenpflicht gilt auch für alle anderen in Corona-Zeiten, und wenn schon der Mindestabstand unmöglich ist in diesem Geschiebe und Gedränge, so wird wenigstens das fast durchgehend befolgt. Der Mund-Nasen-Schutz eignet sich allerdings auch prächtig für die Übermittlung politischer Botschaften. «Crime Minister» steht auf manchen Masken, auf anderen «Auf keinen Fall». Es ist ein Nein zu Netanyahu.
Keine Bühne für Oppositionspolitiker
Der Protest ist politisch, aber vor allem ist er persönlich. Jeder kommt aus seinem eigenen Grund und trägt sein eigenes Schild. Den einen geht es um die Rettung der Demokratie, den anderen eher um den Ausgleich mit den Palästinensern. Eine Frauengruppe protestiert gegen sexuelle Gewalt, andere gegen den Kurs der Regierung in der Corona-Krise. Alles hat hier seinen Platz, nur nicht die Parteipolitik. Organisiert werden die Proteste von mindestens einem halben Dutzend Graswurzelbewegungen. Hier und da mischen sich zwar ein paar prominente Oppositionspolitiker unters Volk. Aber es gibt für sie keine Bühne, es gibt keine Reden.
Es würde sie sowieso niemand verstehen bei diesem Dauerlärm durch Tröten und Trommeln. Keine ruhige Minute soll der Regierungschef mehr haben, der geschützt durch Eisengitter und Polizisten und obendrein noch abgeschirmt durch einen riesigen schwarzen Vorhang in seiner Villa residiert. Ob ihm die Proteste gefährlich werden können, ist noch offen. Dass sie ihn nervös machen, ist offenkundig. «Anarchisten» hat Netanyahu die Demonstranten genannt, über «Aliens» hat sein Sohn Jair gespottet.
Das hat die Lage noch angeheizt, und immer wieder ist es in der vergangenen Woche zu Gewalt gekommen – mal zwischen Polizei und Protestierenden, mal durch rechte Schlägertrupps, die Jagd auf Demonstranten machten. Das hat viele Ängste geweckt, und auch Ehud Olmert hat nun Alarm geschlagen. Olmert ist gewissermassen vom Fach: Er war auch mal Premierminister, und er war auch wegen Korruption angeklagt. Anders als Netanyahu aber ist er zurückgetreten, später hat er eine Gefängnisstrafe abgesessen. Nun attestiert er seinem Nachfolger in einem Beitrag für die «Jerusalem Post» eine «psychotische Angstattacke» und warnt: «Netanyahu will Blut.» Denn das Blutvergiessen bei den Demonstrationen würde ihm den Vorwand liefern, sie zu verbieten und die Welle zu stoppen.
An diesem Samstag aber bleibt es weitgehend friedlich. Erschöpft und zufrieden packen die Demonstranten am Ende ihre Schilder wieder ein. Auf einem ist noch zu lesen: «Israel ist nicht Bibi.»
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