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Meinung

Schwindeln im Alltag
Lügen oder ehrlich sein?

Soll ich wirklich sagen, was ich denke? Im Zweifelsfall greifen manche Menschen gern zu einer kleinen Schwindelei.
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Wenig löst bei mir so viel sozialen Stress aus wie diese Situation: Bekannte stellen mir Fragen, die ich nicht beantworten möchte. Etwa: «Steht mir meine neue Frisur?» Oder: «Wie war meine Präsentation an der Sitzung?» Oder: «Bist du eigentlich sauer auf mich?»

Könnte meine Antwort die Gefühle des Gegenübers kränken, wähle ich häufig den Weg des geringsten Widerstandes: Ich lüge, um soziale Zerwürfnisse zu vermeiden. Ich lobe die Frisur oder die Präsentation, streite jeglichen Ärger ab. «Es sind ja nur Details», sage ich mir. «Es bringt der Person nichts, meine ehrliche Meinung zu hören.»

Die meisten Menschen lügen oft

Damit bin ich nicht allein. 60 Prozent der erwachsenen Menschen können kein zehnminütiges Gespräch führen, ohne zu lügen. Frauen verdrehen die Wahrheit dabei besonders häufig, um die Gefühle anderer zu schonen («Nein, du siehst heute überhaupt nicht müde aus»). Männer schwindeln hingegen mehr, um sich selber besser aussehen zu lassen («Natürlich habe ich ‹Der Pate› gesehen»).

Und wer jetzt diese Zeilen liest und überzeugt ist, er oder sie gehöre zu den ehrlichen 40 Prozent, sollte diese Annahme besser anzweifeln. Denn in der Studie zu diesen Lügen mussten sich alle 240 Probandinnen und Probanden nach dem zehnminütigen Gespräch hinsetzen und die Videoaufnahme davon anschauen. Vor dem Bildschirm erschraken die meisten darüber, wie oft sie geschummelt hatten. «Wir erwarteten nicht, dass Lügen ein so alltäglicher Teil des Lebens sind», kommentierte der Studienautor und Psychologe Robert Feldman von der Universität Massachusetts.

Das klingt nach ganz viel Anstrengung. Anstrengung, die offenbar auch das Glück hemmt: Wer weniger lügt, lebt gesünder, hat gemäss Studien ein kleineres Risiko, an einer Depression zu erkranken, fühlt sich seltener angespannt und führt schönere und tiefere Beziehungen. Auch wenn die Lügen nur klein und als soziale Schmiermittel gedacht sind.

Wenn Ehrlichkeit wehtut

Diese Ehrlichkeit hat aber auch Kosten. Allein der Gedanke daran, die Präsentation einer Kollegin zu kritisieren, löst bei mir Stress aus. Ich möchte sie weder demütigen noch an ihrem Selbstwert kratzen – und ich will nicht, dass unsere Beziehung einen Schaden davonträgt.

Diese Angst vor unangenehmen Wahrheiten wollten Forschende der Universitäten Chicago und Carnegie Mellon genauer analysieren. Dafür luden sie Hunderte Menschen in ihr Labor ein und teilten ihnen mit, sie sollten eine ihnen nahestehende Person wie den Ehemann, die beste Freundin oder die Mutter mitnehmen.

Zu Beginn erhielten die Personen die Aufgabe, schwierige Fragen im Zweiergespräch ehrlich zu beantworten. Etwa: «Haben Sie Meinungen über die andere Person, die Sie bis jetzt gezögert haben mitzuteilen?» Oder: «Wie lange glauben Sie, dass Ihre Liebesbeziehung halten wird?» In einem zweiten Studienteil mussten die Teilnehmenden der anderen Person dann konkretes negatives Feedback geben.

Nähe ist wichtiger als Harmonie

In beiden Fällen waren die Kritisierenden überzeugt, dass die Gespräche für das Gegenüber viel schmerzhafter sein würden, als sie tatsächlich waren. Sie erwarteten auch, dass die Ehrlichkeit der Beziehung deutlich mehr schaden würde, als sie es tat. Stattdessen trat das Gegenteil ein: Ein einziges ehrliches Gespräch führte bei beiden zu mehr Glück. «Die Übung war am Anfang sehr unangenehm für mich», sagte ein Teilnehmer nachher. «Aber ich glaube, wir haben unsere Freundschaft gestärkt.»

Es sei wohl ein Fehler, Ehrlichkeit aus sozialen Ängsten zu vermeiden, schlussfolgern die Studienautorinnen. Denn obwohl Verletzungen entstehen können, ist Nähe für Beziehungen wichtiger als Harmonie.

Klingt alles logisch. Aber ob es eine gute Idee ist, frei von der Leber weg die neue Ponyfrisur einer Freundin zu beanstanden, wage ich weiterhin zu bezweifeln.

In dieser Kolumne denken unsere Autorinnen und Autoren jede Woche über das gute Leben nach.