Kolumne «Miniatur des Alltags»Betrunken sein macht kreativ
Dass Alkohol die kreativen Fähigkeiten ankurbelt, durfte unsere Autorin am Open Air St. Gallen bestätigt bekommen.
Festivals sind bekanntlich ein Ort, an dem junge Menschen zusammenkommen, um für ein paar Tage in vermatschten Gummistiefeln zum Sound ihrer Lieblingskünstler alle Sorgen und Verantwortungen zu vergessen. Dabei fliesst der Alkohol natürlich aus allen Hähnen, und die Essensstände werden zu jeder Tageszeit überrannt.
So kam es, dass ich an einem Abend des St. Gallen Open Airs heisshungrig bereits seit über 20 Minuten am Crêpesstand wartete, als sich plötzlich – kurz vor Endspurt – zwei Männer vor mich drängten. Der eine hielt mir sein Smartphone unter die Nase, während mir der andere panisch seine Lage schilderte. Er habe Diabetes und müsse jetzt sofort Zucker zu sich nehmen, ansonsten würde er kollabieren. Das Bild auf dem Smartphone zeigte eine steil abfallende Kurve. «Mein Blutzuckerspiegel ist viel zu tief», erklärte er mir mit verzweifeltem
Blick.
Ohne gross nachzudenken, liess ich sie vor und bot ihnen sogar noch meinen halb angefressenen Schokoriegel an, welchen sie jedoch ablehnten. Hoffentlich geht es ihm bald besser, war mein einziger Gedanke, als ich hinter meinem Rücken ein Kichern hörte. Ich drehte mich verwundert zu dem Paar um, welches hinter mir in der Schlange stand und die ganze Situation mitverfolgt hatte. Als mich die Frau fragte, ob ich das Bild genauer
angeschaut habe, schüttelte ich den Kopf, was sie noch mehr zum Lachen brachte. «Das war nicht sein Blutzuckerspiegel. Das war ein Bild eines Aktienmarkts.»
Ich sah mich empört nach den beiden Männern um und entdeckte gerade noch, wie sie mit je einer Nutellacrêpe leicht schwankend davonliefen. Da konnte auch ich mich nicht mehr halten. Auch wenn ich vermutlich sehr leichtgläubig gehandelt hatte: Wer so viel Kreativität besitzt, hat es von mir aus verdient, die Schlange zu überspringen.
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