Besucheransturm in den AlpenTourismus bringt Schweizer Bergregionen an den Anschlag
Immer mehr Tagesausflügler ärgern die Einwohner beliebter Reisedestinationen. Gemeinden wie Lauterbrunnen wollen die Notbremse ziehen.
Es sind keine schönen Szenen, die sich diesen Sommer in Lauterbrunnen abspielen: verstopfte Strassen, volle Parkplätze, Menschenmassen, die sich durchs Dorf drängen. «Wir hatten in diesem Sommer massiv mehr Tagestouristen, die mit ihrem Mietauto angereist sind», sagt Karl Näpflin. An manchen Tagen bis zu 8000.
Das Problem: Zwar lebt Lauterbrunnen vom Tourismus, «zu 99 Prozent», wie der Gemeindepräsident sagt. Doch gerade bei den Tagestouristen hält sich die Wertschöpfung in Grenzen. «Sie fahren zum Staubbach, parkieren kreuz und quer, fotografieren ihre Familie mitten auf der Strasse und bringen den ganzen Verkehr zum Erliegen», sagt der Gemeindepräsident.
Fussball spielen auf dem Friedhof
Teilweise sei das Verhalten vieler Touristen auch gefährlich oder schlicht respektlos: «Es gibt immer wieder Leute, die frischfröhlich in der Lütschine baden gehen, obwohl der Fluss einen enormen Zug entwickeln kann.» Oder erst kürzlich hätten Touristen auf dem Friedhof Fussball gespielt und sich gegenseitig zwischen den Grabsteinen fotografiert.
Die Touristen geben im Dorf zu reden. «Es besteht Handlungsbedarf», sagt Karl Näpflin. Er macht sich bereits über den nächsten Sommer Gedanken und sagt: «Wir dürfen diese Auswüchse nicht beschönigen.»
Am Mittwoch, 20. September, lädt der Gemeinderat deshalb den Bezirk Lauterbrunnen zur «Chropflärete», wie Näpflin sagt. Hauptthema der Versammlung ist der sogenannte Overtourism. Dazu hat der Gemeinderat die Bevölkerung gebeten, «aussagekräftige Fotos und Videos zur aktuellen Lage» einzusenden. «Es werden sicher nicht nur nette Worte fallen», ist sich der Gemeindepräsident bewusst.
WCs aufgestellt – «Wir hatten keine Wahl»
Längst leidet die Bevölkerung nicht nur unter dem Verkehrschaos, sondern auch unter der Wohnungsnot. Viele vermieten ihre Wohnungen lieber via Airbnb an Touristen statt an Einheimische oder Angestellte der Hotellerie.
Auch die Infrastruktur des Dorfes ist nicht auf so viele Tagestouristen ausgerichtet: Lange Schlangen an den Coop-Kassen oder die neuen mobilen Toilettenanlagen beim Friedhof zeugen davon. Zwölf zusätzliche WCs hat die Gemeinde diesen Sommer aufgestellt. «Illegalerweise», wie der Gemeindepräsident betont. «Aber wir hatten keine Wahl.» Der Kanton hatte dafür jedoch kein Gehör und ermahnte die Gemeinde.
Auch andere Bergregionen kennen den plötzlichen Ansturm an Individualgästen. Die österreichische Gemeinde Hallstatt etwa zählt weniger als 800 Einwohner, diesen Sommer reisten jedoch an manchen Tagen bis zu 10’000 Gäste in die Ortschaft am Bergsee.
Wenn der Souvenir-Laden die Bäckerei ersetzt. Oder das Fondue-Restaurant die Dorfbeiz.
In der Schweiz gelten Interlaken, Luzern und Zermatt als traditionelle Tourismusdestinationen. Aufgrund vieler Beiträge in den sozialen Medien werden mittlerweile auch Orte wie der Aescher in Weissbad, die Badestellen in Lavertezzo oder Iseltwald am Brienzersee regelrecht überrannt.
Zwar hat Martin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus, diesen Frühling in einem Interview gesagt, dass es in der Schweiz keinen Overtourism gebe. Wenn sich jedoch die lokale Bevölkerung wegen des zu grossen Touristenaufkommens unwohl fühlt, kann man durchaus von Overtourism sprechen. Dieser Meinung ist auch Nicole Stuber-Berries. Sie ist Professorin und Co-Leiterin am Kompetenzzentrum Tourismus der Hochschule Luzern und sagt: «Overtourism ist keine klar definierte Diagnose.»
Overtourism betreffe nicht nur die physischen Grenzen der Infrastruktur, sondern auch das unerwünschte Verhalten der Touristen. Zudem gebe es indirekte Auswirkungen. Dazu gehören etwa Angebote, die mehr auf die Bedürfnisse der Touristen als auf jene der Einwohner ausgerichtet sind. Beispielsweise wenn der Souvenir-Laden die Dorfbäckerei oder das Fondue-Restaurant die Dorfbeiz ersetzt.
Serien und Social Media befeuern das Problem
Diese Effekte treffen vor allem kleine Orte. Zwar hätten auch grössere Wintersportorte mit Touristenströmen zu kämpfen. Dort sei jedoch die Infrastruktur über Jahre mit dem Bedürfnis der Kundschaft gewachsen. Dank der hohen Wertschöpfung hätten sich die hohen Investitionen zudem meist ausbezahlt.
Anders sieht die Situation aus, wenn ein Ort plötzlich zum Touristenmagnet wird. Iseltwald wurde etwa bekannt durch die südkoreanische TV-Serie «Crash Landing on You», andere Orte werden durch die sozialen Medien zu Hotspots.
Viele davon hat die belgische Fotografin Natacha de Mahieu bereist. Zwar handelt es sich bei ihren Bildern um Inszenierungen, bei denen mehrere Aufnahmen übereinandergelegt wurden. Dennoch findet sie, dass diese der Realität etwa gleich nah kommen wie die Posts der Touristen. «Viele wollen ein individualistisches Reiseerlebnis – gleichzeitig inszenieren sie sich exakt gleich wie Tausende von anderen Reisenden.»
Bei ihrer Arbeit sei ihr aufgefallen, dass viele Reisende sich mehr dafür interessierten, die Landschaft durch den Bildschirm wahrzunehmen und in den sozialen Medien zu teilen als für das Erlebnis an und für sich.
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Doch kann man Touristen daran hindern, an einen Ort zu reisen, um dort ein Selfie zu schiessen? «Mit Verboten riskiert man einen Shitstorm», sagt Nicole Stuber-Berries. Gleichzeitig gebe es kein allgemeingültiges Rezept gegen Overtourism.
Infolge des plötzlichen Ansturms südkoreanischer Gäste hat die Gemeinde Iseltwald einen Mix aus Massnahmen ergriffen. So wurde etwa beim Steg – dort spielte eine Schlüsselszene der Serie – ein Drehkreuz eingerichtet; der Zugang kostet nun fünf Franken.
Nicole Stuber-Berries weist noch auf weitere Möglichkeiten hin, Touristenströme zu lenken: etwa das sogenannte Nudging. «Dabei informiert man Gäste zum Beispiel über Wartezeiten und weist sie auf alternative Routen oder Reiseziele hin.»
Park-Label und Sicherheitspersonal
Und welche Lösungsansätze sieht die Gemeinde Lauterbrunnen? «Grundsätzlich sind Touristen bei uns sehr willkommen», sagt Karl Näpflin. «Wir wollen sie freundlich begrüssen, aber ihnen gleichzeitig auch unsere Regeln aufzeigen und sie bitten, sich daran zu halten. Auch zu ihrem eigenen Schutz.» Er wünscht sich im Gegenzug, dass man die Lauterbrunner Kinder bereits in der Schule auf die unterschiedlichen Kulturen vorbereitet, auch wenn das nicht alle im Dorf begrüssen würden.
Für mehr Lenkung spricht auch Touristiker Marc Ungerer, Geschäftsführer der Jungfrau Region Tourismus AG: «Mittlerweile kommen die Leute auch hierher, wenn wir keine Werbung machen.» Deshalb müsse man die Touristen zum längeren Verweilen animieren und die Ströme örtlich wie zeitlich besser verteilen: «Gerade Touristen aus Südostasien wären bereit, auch in der Nebensaison bei uns Ferien zu machen», sagt der Tourismusexperte. Schliesslich könnten die Gäste künftig vermehrt über finanzielle Anreize gelenkt werden, sei es über Tagesgebühren oder über höhere Parkingpreise.
«Wir müssen den Gast abholen, bevor er quer auf der Strasse steht.»
Der Gemeinderat von Lauterbrunnen denkt auch über die Schaffung eines Parklabels nach, das der Gemeinde mehr Handlungsspielraum verschaffen würde. Konkret hat er zudem die Anstellung von Sicherheitspersonal im Budget vorgesehen. Dieses könnte beispielsweise das Ein- und Aussteigen der Touristen an den Bahnhöfen überwachen oder den geplanten Überlaufplatz für Campingfahrzeuge organisieren.
Aber auch kleinere Massnahmen könnten helfen, und seien es bloss Piktogramme oder Info-Material. «Wir müssen den Gast abholen, bevor er quer auf der Strasse steht. Oder auf dem Friedhof Fussball spielt», sagt Karl Näpflin.
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