Medienkonferenz zu Corona-Lockerungen«Nehmen gewisses Risiko in Kauf»: Bundesrat will Läden am 1. März wieder öffnen
Die Schweiz soll im Monatsrhythmus aus dem Lockdown kommen. Guy Parmelin reagiert heftig auf Kritik an «Diktator» Alain Berset. Wir berichteten live von der Medienkonferenz.
Das Wichtigste in Kürze
Ab dem 1. März sollen Läden (mit Maskenpflicht, Abstandhalten und Kapazitätsbegrenzungen) wieder öffnen können.
Dasselbe gilt für Museen, Lesesäle von Bibliotheken, die Aussenbereiche von Zoos und botanischen Gärten. Gastronomiebetriebe müssen weiterhin geschlossen bleiben.
Jugendliche bis 18 Jahre sollen wieder den meisten sportlichen und kulturellen Aktivitäten nachgehen können. Auch Sport-und Freizeitanlagen sollen deshalb wieder ab 1. März öffnen.
Im Freien sollen private Veranstaltungen mit bis zu 15 Personen wieder erlaubt sein.
Weitere Lockerungen sollen in einmonatigem Abstand folgen, wenn es die epidemiologische Lage erlaubt.
Kritik an «Diktator» Berset schmettert das SVP-Duo Parmelin/Maurer mit deutlichen Worten ab.
Der Bundesrat wird nach Konsultation der Kantone am 24. Februar definitiv über den ersten Öffnungsschritt entscheiden.
Reaktionen auf die Lockerungspläne des Bundesrats: Das sagen Parteien, Verbände und Epidemiologen.
Übersicht der heutigen Entscheide
LOCKERUNGEN
Ab 1. März sollen alle Läden, Museen, Bibliotheken, Zoos und Freizeitparks in der Schweiz wieder öffnen. Die Anzahl der Kundinnen und Kunden muss beschränkt werden. An allen Orten gelten Maskenpflicht und Abstandsregeln. Im Freien sollen Treffen mit 15 Personen möglich sein. Ebenso sollen Sportanlagen wie Kunsteisbahnen, Tennis- und Fussballplätze oder Leichtathletikstadien wieder öffnen dürfen. Hier gelten neben Kapazitätsbeschränkungen ebenfalls Maskentragpflicht oder Abstandhalten. Erlaubt sind jeweils nur Gruppen von maximal fünf Personen; Wettkämpfe und Veranstaltungen sind im Erwachsenen-Breitensport weiterhin nicht erlaubt.
Für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre gelten bereits heute im Sport- und Kulturbereich gewisse Erleichterungen. Der Bundesrat möchte die Altersgrenze nun auf 18 Jahre anheben und die erlaubten Sport- und Kulturangebote ausweiten. Zudem sollen Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit wieder zugänglich sein.
Restaurants bleiben zu, die Homeoffice-Pflicht bleibt bestehen.
Am 1. April soll ein zweiter Öffnungsschritt folgen – «bei günstiger Entwicklung und höherer Durchimpfungsrate». Vorgesehen wäre zum Beispiel, Kultur- und Sportveranstaltungen mit Publikum in eng begrenztem Rahmen wieder zu ermöglichen, ebenso Sport in Innenräumen oder die Öffnung von Restaurantterrassen.
HÄRTEFÄLLE
Der Bund erhöht die Hilfen für Härtefälle von fünf auf zehn Milliarden Franken. Davon sind sechs Milliarden für kleinere und mittlere Unternehmen mit einem Jahresumsatz von bis zu fünf Millionen Franken vorgesehen. Drei Milliarden sind für grössere Unternehmen vorgesehen. Zudem stockt der Bundesrat die bestehende Bundesratsreserve für besonders betroffene Kantone auf eine Milliarde Franken auf.
KURZARBEIT
Der Bund soll auch 2021 die Kosten für die Kurzarbeit übernehmen. Das hat der Bundesrat entschieden. Die Höchstbezugsdauer für Kurzarbeitsentschädigung soll zudem von aktuell 18 auf maximal 24 Monate werden können. Gemäss Mitteilung des Bundesrats führt dies zu einer Mehrbelastung des Bundeshaushalts von geschätzt bis zu sechs Milliarden Franken.
BUNDESFINANZEN
Der Bund schliesst das Rechnungsjahr 2020 Coronavirus-bedingt mit einem Rekorddefizit von 15,8 Milliarden Franken ab. Ohne die Aufwände wegen der Corona-Pandemie hätte das Defizit 1,2 Milliarden Franken betragen. Mit einer langsamen Erholung rechnet der Bundesrat erst in den Jahren 2023 bis 2025.
NACHTRAGSKREDITE
Der Bundesrat beantragt dem Parlament weitere 14,3 Milliarden Franken zur Bewältigung der Corona-Krise. Die grössten zusätzlichen Beträge entfallen dabei auf Härtefallmassnahmen für Unternehmen, Kurzarbeitsentschädigung, Kosten für Corona-Tests und den Erwerbsersatz.
Schlussfrage: Wo steht die Schweiz in einem Jahr?
«Ich sehe mich mit einem Bier auf einer Terrasse», sagt Alain Berset schmunzelnd, der Bundespräsident ergänzt: «Ich auch, aber mit einem Glas Weisswein.»
Damit endet die Medienkonferenz des Bundesrats zum Öffnungsplan.
Frage: Nachlässigkeit im privaten Bereich?
Das persönliche Verhalten jedes Einzelnen sei ausschlaggebend. Die 5er-Regel im privaten Rahmen bleibe deshalb bestehen, weil diese einfach sehr wirksam sei. Man kommuniziere transparent und das mache man auch jetzt: Wir wollen öffnen, auch wenn es dabei Risiken gibt, sagt Berset. Aber wenn alle die Regeln befolgen, dann kommen wir durch die Krise, sagt der Gesundheitsminister. Und er sei optimistisch. Man habe gedacht, dass die Zahlen nach Weihnachten wieder hochgehen. In anderen Ländern war das der Fall, doch die Schweizer Bevölkerung war sehr diszipliniert und er gehe deshalb nicht von einer Nachlässigkeit aus, man wisse, was jetzt auf dem Spiel stehe.
Frage: Publikum beim 2. Schritt?
Wenn Kultur- und Sportveranstaltungen wieder zugelassen werde, gebe es wohl eine Sitzpflicht, es müssen Masken getragen werden und die Kapazität werde eingeschränkt, beispielsweise nur ein Drittel, das müsse man noch genau definieren, sagt Berset.
Frage: Szenarien für März?
Berset erklärt, man habe die Entwicklung der alten und neuen Variante hochgerechnet. Die neue Variante verdopple sich alle zehn bis 14 Tage. Anhand dieses Szenarios gebe es ab März wieder einen leichten Anstieg der Fallzahlen. Aber man sei dann auch wieder mehr draussen, das werde sich günstig auswirken.
Und jede Impfung verbessere die Lage ebenfalls. Was wirklich in der näheren Zukunft passiere, sei schwierig zu sehen. Ohne den baldigen Frühling und die Impfung wären die Öffnungsschritte ein grösseres Risiko, die Entwicklung sei demnach derzeit günstig.
Berset erklärt zudem, dass es wohl nicht mehr die gleiche Korrelation gebe zwischen Fallzahlen und Hospitalisierungen oder Todesfällen, weil eben mehr Menschen bereits geimpft sind.
Frage: Mehr Testen?
Berset sagt, man müsse mehr testen, aber noch mehr pushen könne man das nicht, das sei mittlerweile klar, auch für Massentests. BAG-Vertreter Mathys erklärt, dass Massentests sinnvoll seien. Alle zwei Wochen aber 4 Millionen Menschen zu testen, also ein Massentest von 50 Prozent der Bevölkerung, sei logistisch nicht möglich. Es gebe andere Möglichkeiten, um mehr zu testen und diese sollten nun unbedingt genutzt werden.
Frage: Viele Polizisten im Bundeshaus?
Bundeshaussprecher André Simonazzi sagt, die Sicherheitslage habe sich etwas verändert, deshalb wurde das Sicherheitsdispositiv angepasst, aber genaue Zahlen gebe man dazu nicht bekannt.
Frage: Richtwerte für 2. Schritt?
Automatismen funktionieren nicht in der Krise, erklärt Berset. Im letzten Sommer hatte man diese Inzidenzgrenze von 60, die galt und alles darüber war eine Katastrophe. Aus heutiger Sicht wird das anders bewertet. Richtwerte habe man aber immer gehabt.
Frage: Besser als Nachbarn?
Im Gegensatz zu den Nachbarländern gab es keine negative Entwicklung nach Weihnachten und Neujahr, sagt Berset. Das ermögliche es nun, diese Lockerungsschritte zu beschliessen, während andere noch einen Lockdown haben.
Frage: 5er-Regel?
Die Aufhebung der 5er-Regel sei im zweiten Schritt vorgesehen, sagt Berset, für die Restaurants, also die Innenbereiche, sei der dritte Schritt angepeilt, also nach Ostern.
Frage: Impfung bis im Sommer?
Bis wann wird die Bevölkerung durchgeimpft sein? Berset erklärt, dass dies von zwei Punkten abhänge. Erstens an den Lieferungen und zweitens an den Impfkapazitäten. Bisher laufe es nicht schlecht, es gab zwar Lieferengpässe, aber das werde nachgeholt.
Die Situation entwickle sich nicht so schlecht. Nora Kronig, die Chefin des Schweizer Corona-Impfprogramms, bestätigt, man sei auf Kurs, das Ziel zu erreichen, das heisst, bis im Sommer soll geimpft sein, wer geimpft werden will.
Frage: Kritik an «Diktator» Berset
Guy Parmelin wird auf die heftige Kritik an Alain Berset – er sein ein «Diktator» – angesprochen. Parmelin verteidigt seinen Kollegen: «Sieht er denn aus wie ein Diktator?»
Parmelin sagt, die Entscheide würden im Kollegium gefällt. Es gebe schwierige Momente in der Krise und viel Kritik, es gab Grundsatzdiskussionen über epidemiologische Aspekte, die Lage verändere sich teilweise rasch. Aber die Entscheidungen werden immer im Team im Gesamtbundesrat gefällt. Kritik an einzelnen Personen seien daher nicht gerechtfertigt, da immer das Kollegium entscheide.
Maurer ergänzt, manchmal gebe es ja auch einen SVP-Reflex, und dann seien Parmelin und er Schuld, aber das sei ja nicht der Fall, es sei immer der Bundesrat.
Es sei nicht er, der das Portemonnaie öffne und nicht Berset, der den Lockdown verhänge, sondern alle 7 Regierungsmitglieder zusammen und man stehe gemeinsam hinter den Entscheiden.
Die Journalistinnen und Journalisten dürfen den Bundesrat aber auch nicht gegeneinander ausspielen, mahnt Maurer. Die Situation sei schwierig genug, ohne dass man versuche den Bundesrat gegeneinander auszuspielen. Er habe überhaupt nichts gegen Berset, im Gegenteil, er arbeite hervorragend, betont der Finanzminister.
Nun sieht sich Berset fast gezwungen, auch noch etwas zu sagen. Die Situation mit der Krise sei etwas nie Dagewesenes. Er wolle mal allen danken, die dazu beigetragen haben, dass die Schweiz bisher da durchgekommen. Und er dankt dem Bundesrat, der gezeigt habe, dass die Schweiz eine funktionierende und solidarische Regierung habe.
Frage: 2. Schritt nicht fix?
Parmelin erklärt, man habe jetzt schon kommuniziert, was am 1. April folgen könnte, weil man eine Perspektive geben wolle, auch wenn man noch nicht genau wisse, wie sich die Zahlen im März entwickeln und ob das wirklich eingehalten werden kann, es sei aber wichtig gewesen, den Plan offenzulegen.
Frage: Gehen Unternehmen leer aus?
Das sei eine interessante Frage, findet Parmelin. Wenn man die Unternehmen kontrolliere und die Zahlen stimmen nicht überein, gebe es vorerst mal kein Geld und die Unternehmen seien enttäuscht. Aber grundsätzlich mache man alles, dass diejenigen, für die Gelder gedacht sind, diese auch erhalten.
Maurer ergänzt, dass es wohl Konkurse geben werde. Für Tieflöhner werde es mit 80 Prozent Lohnentschädigung schwierig, es werde Leute geben, die durch die Maschen fallen. Man versuche die Löcher zu flicken, aber man könne nicht alles abdecken, eine solche Garantie könne der Bundesrat nicht abgeben. Die momentane Phase treffe die wirtschaftlich Schwachen, die zahlen den Preis, auch wenn wir uns noch so Mühe gebe, sagt Maurer.
Frage: Homeoffice-Pflicht?
Die Massnahmen wirken sich weniger aus als in der ersten Welle, sagt Berset. Die Mobilität ging nicht im gleichen Masse zurück. Der Bundesrat habe diskutiert, wie man mit der Homeoffice-Pflicht weiterfahren soll. Guy Parmelin übernimmt hier und sagt, dass die Unternehmen sich auch angepasst haben, man habe Einzelbüros eingerichtet und die Bevölkerung sei diszipliniert. Er hoffe, dass es keine allzu grossen Probleme mit dem Homeoffice gebe, denn dieses werde in den nächsten Wochen noch beibehalten.
Frage: Long Covid?
Eine Null-Fall-Politik sei nie das Ziel des Bundesrats gewesen, das könne man nur auf einer Insel. Das Schweizer Ziel war, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und die gefährdeten Personen zu schützen. Dafür soll es nun starke Testsysteme für Altersheime geben. Über Long Covid wisse man noch wenig, das sei eine medizinische Sache.
Patrick Mathys vom BAG ergänzt, dass Long Covid tatsächlich langfristig ein Problem werden könnte. Die Finanzierung sei aber gesichert.
Frage: Contact Tracing ausbauen?
Das Contact Tracing laufe sehr gut, sagt Berset. Die Aufgabe sei schwierig, aber die Positivitätsrate sei niedrig und die Nachverfolgung laufe gut.
Frage: Wurden Ziele angepasst?
Die Fallzahlen halbieren sich nicht alle zwei Wochen, trotzdem wird gelockert. Es sei keine exakte Wissenschaft, sagt Berset. Man müsse Leid mindern und das Optimum suchen, deshalb wird jetzt gelockert, auch wenn die Fallzahlen nicht so schnell sinken wie gewünscht. Man wisse nun besser, wie man sich schützen kann, man habe die Impfung und werde im Frühling mehr Impfstoffe erhalten.
Ein schnellerer Öffnungsrhythmus komme für den Bundesrat dennoch nicht infrage, sagte Berset. Im vergangenen Jahr, als die Öffnungsschritte nur drei Wochen auseinanderlägen, habe der Bundesrat jeweils «fast im Blindflug» entscheiden müssen.
Frage: Todesurteil für Restaurants?
Es gebe sehr starke, wirtschaftliche Unterstützung für die Gastronomie, sagt Berset. Man müsse auch berücksichtigen, wie es gehen kann, wenn man unvorsichtig sei, das habe man in Italien oder in Portugal gesehen, wo die Fallzahlen plötzlich explodierten. Dann seien alle wochenlangen Fortschritte zunichte, das helfe dann gar niemandem.
Es sei sehr hart für die betroffenen Branchen, die nichts falsch gemacht haben, deshalb habe man viel Unterstützung gesprochen. Die Restaurants seien seit 3 Monaten zu, das sei hart, die Kulturbetriebe seien teilweise aber schon fast ein Jahr zu, das sei unglaublich hart. Deshalb müsse man unbedingt versuchen, dass die Pandemie und die Lockdown-Massnahmen so kurz wie möglich andauern.
Wenn man unvorsichtig vorgehe, verlängere man das Problem, schaffe mehr Leid und Kosten. Es sei schwierig, das Optimum zu finden zwischen den Massnahmen, die viel weniger stark sind als in anderen Ländern, und den Öffnungsschritten.
Frage: Wann kommen Härtefallgelder?
Die KMU warten auf ihr Geld, wann kommt es? Maurer sagt, der Bundesrat verteile Steuergelder einfach so, ohne Rückzahlungspflicht. Es sei daher sehr wichtig, dass die Kantone dies sehr genau prüfen.
Maurer versteht zwar, dass der Wunsch nach schnellem Geld da sei, man sei aber schon verpflichtet, sehr sorgfältig mit den Steuergeldern umzugehen. Es funktioniere gut, auch wenn es für einzelne Betriebe noch zwei Wochen länger dauere, bis das Geld komme.
/anf
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