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Folgen der Inflation
Bähnler legen Grossbritannien lahm 

Das Fahrrad als Alternative: Der Streik des Bahnpersonals lässt Pendler umsteigen. 
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Wer von London mit dem Zug nach Manchester will, muss erst einmal nach Euston. So heisst der Bahnhof in der britischen Hauptstadt, der an normalen Tagen so voll ist, dass man sich nur schwer aus dem Weg gehen kann. Doch an diesem Dienstagmorgen ist die grosse Halle mit den Anzeigetafeln so gut wie leer. Keine Touristen, die das richtige Perron suchen, keine aufgeregten Kinder auf Schulreise und auch keine Pendler, die sich noch schnell einen Kaffee bei Costa holen. Stattdessen: Stille.

Der Mann, der für diese Stille mitverantwortlich ist, steht an diesem Morgen vor dem Bahnhof. Er heisst Mick Lynch und ist Generalsekretär von RMT, der Gewerkschaft der Bahnbeschäftigten. Fast im Minutentakt gibt er Interviews und sagt, was gesagt werden muss, jedenfalls aus seiner Sicht. Immer wenn er vor den Fernsehkameras spricht, werden hinter ihm rote und grüne Gewerkschaftsflaggen geschwenkt. Lynch, 60 Jahre alt, graues Sakko, sagt also: «Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, die durch unsere Aktion entstehen, aber wir wollen einfach nur das, was uns zusteht: mehr Lohn.»

7 Prozent mehr Lohn gefordert

Die Gewerkschaft fordert 7 Prozent mehr Lohn. Das sei nur angemessen, sagt Lynch vor dem Bahnhofsgebäude, denn in den vergangenen drei Jahren habe es wegen Corona keine Gehaltserhöhungen gegeben. Das Hauptargument der Gewerkschaft ist die Inflationsrate, sie liegt in Grossbritannien mittlerweile bei 9 Prozent. Dabei wird es wohl nicht bleiben.

Mehr Lohn, darum geht es bei dem grössten britischen Bahnstreik seit 30 Jahren. Nachdem am Montagabend die Gespräche zwischen Gewerkschaft und Bahnbetreibern gescheitert sind, stehen am Dienstag die meisten Züge still. Mehr als 40’000 Eisenbahner beteiligen sich laut RMT an dem Streik. Sie legen damit etwa die Hälfte des britischen Schienennetzes lahm. Nach dem Auftakt am Dienstag soll es am Donnerstag und am Samstag weitergehen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Lynch hat bereits angekündigt, dass die Streiks so lange fortgesetzt werden, bis es eine Einigung gibt.

Es geht nicht um die Lokführer

Die Bank of England geht davon aus, dass die Inflation im Herbst bei mehr als 10 Prozent liegen dürfte. Den Grund dafür sieht Lynch vor allem in den Energiepreisen, die seit Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine massiv in die Höhe gestiegen sind. Und damit die Bahnbediensteten auch künftig ihre Gasrechnungen bezahlen können, fordert er nun eben mehr Lohn.

Lynch ist es wichtig, zu sagen, dass er nicht die Lokführer vertritt, denn die verdienen seines Erachtens ganz gut. Nein, seiner Gewerkschaft gehe es um die Reinigungskräfte und die Menschen, die für die Aufrechterhaltung des Bahnbetriebs zuständig sind, sei es im Billettverkauf oder beim Streckendienst. 7 Prozent mehr Lohn will Lynch für sie durchsetzen, doch die Bahnbetreiber halten das für viel zu viel. Die Arbeitgeber finden ein Plus von 2 Prozent angemessen, maximal 3 Prozent.

Wegen der Corona-Pandemie ist die Zahl der Bahnpassagiere um ein Fünftel zurückgegangen.

Aus Sicht der Bahnbetreiber ist die Lage ziemlich düster. Wegen der Corona-Pandemie ist die Zahl der Bahnpassagiere um ein Fünftel zurückgegangen. Wer auch daheim arbeiten kann, braucht nicht mehr jeden Tag ins Büro zu fahren. Viele Pendler, die frühmorgens mit dem Zug in die Städte fuhren und am Abend wieder zurück in die Vororte, tun dies nur noch an zwei oder drei Tagen in der Woche.

Kein Wunder, dass die Einnahmen der Bahnbetreiber stark zurückgegangen sind. Während der Corona-Hochphase erhielten sie umgerechnet knapp 19 Millionen Franken Unterstützung vom Staat – doch damit ist es nun vorbei.

Schalter schliessen? Streckendienst mit Drohnen?

Grant Shapps, der britsche Verkehrsminister, sagte am Montag im Unterhaus, dass die Bahnbetreiber sich endlich fit für die Zukunft machen müssten. Und das bedeutet aus Sicht der Regierung: möglichst ohne staatliche Hilfe. Die Gewerkschaft befürchtet deshalb, dass die Arbeitgeber Corona als Ausrede nehmen, um Jobs im grossen Stil abzubauen.

Schon jetzt gebe es dafür genügend Anzeichen, sagt Lynch. Da wäre etwa der Plan, die Billettschalter an den Bahnhöfen abzuschaffen und stattdessen nur noch Tickets im Internet oder via App zu verkaufen. Oder die Idee, Drohnen statt Menschen einzusetzen, wenn es darum geht, den Zustand von Brücken und Gleisen zu überprüfen.

Premierminister Johnson mahnt

Während am Dienstagvormittag Gewerkschaftsmitglieder im ganzen Land vor Bahnhöfen demonstrieren, sitzt Premier Boris Johnson mit seinen Ministern am Kabinettstisch in der Downing Street. Auch er meldet sich an diesem denkwürdigen Tag zu Wort. Johnson geht mit der Gewerkschaft hart ins Gericht, er wirft Lynch und den Mitgliedern vor, gerade jenen zu schaden, denen sie helfen wollen: «Mit diesen Streiks vertreiben sie Pendler, die letztlich die Jobs der Eisenbahner sichern.»

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Die Regierung fürchtet, dass ein zu hoher Lohnabschluss die Inflationsrate weiter nach oben treibt. Die Angst vor einer Lohn-Preis-Spirale ist gross. Denn wie es aussieht, werden die Eisenbahner wohl nicht die Einzigen bleiben mit ihrer Lohnforderung. Auch Lehrer und die Angestellten des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS dürften sich anschliessen.

Erinnerung an den Winter 1978/79

Britische Medien vergleichen die drohenden Arbeitskämpfe schon jetzt mit den 1970er-Jahren. Damals gab es eine Serie von Streiks, die schliesslich 1978/79 zum «Winter der Unzufriedenheit» führten. In Anlehnung daran ist nun von einem «summer of discontent» die Rede, einem «Sommer der Unzufriedenheit» mit streikenden Bahnmitarbeitern, NHS-Kräften und womöglich auch Angestellten der Müllabfuhr.

Am Londoner Bahnhof Euston wird am Donnerstag zwar wieder gestreikt. Immerhin: Anders als am Dienstag soll zumindest die U-Bahn wieder im Normalbetrieb fahren.

Ein Bild aus London vom 31. Januar 1979: Bei der damaligen Streikwelle blieb auch der Müll liegen. Nun kommen angesichts der neuen Streiks ungute Erinnerungen an diesen «Winter der Unzufriedenheit» auf.