Russland in der EM-FalleBacke an Backe – dabei rollt die nächste Corona-Welle an
In St. Petersburg finden am meisten EM-Spiele statt, die Menschen zieht es in die Fanmeilen. Was die Endrunde für die Pandemiebekämpfung bedeutet, ist kaum absehbar.
![Menschen drängen sich in der Fanzone von St. Petersburg. Masken sind nur wenige sichtbar.](https://cdn.unitycms.io/images/0wuvCtGr4paBaBxdHSR2ic.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=N-Lyo2DMS58)
Bei Russlands bisher letzter grosser Party dieser EM kam vor dem Anpfiff niemand mehr rein, so voll war es. Etwa 3000 Menschen durften auf die Fanmeile im Schatten der Auferstehungskirche in St. Petersburg, sie standen vor drei Grossleinwänden. Die zeigten am Montagabend Russlands Niederlage gegen Dänemark, mit der die Mannschaft nach der Vorrunde aus dem Turnier ausschied. Dass die Zuschauer auf den Fan-Meilen Masken trugen, wie es ihnen nahegelegt wurde, blieb den Bildern zufolge ein frommer Wunsch.
Was für Russlands Fussball auf diese EM folgt, ist erst mal die Ursachenforschung von Trainer Stanislaw Tschertschessow. «Wir müssen das in Ruhe analysieren und gucken, was wir falsch gemacht haben», sagte er. Was das Turnier für die Pandemiebekämpfung in einem Land bedeutet, in dem die Infektionszahlen wieder rasant steigen, ist kaum absehbar.
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In keinem anderen der elf EM-Austragungsorte fanden mehr Vorrundenspiele statt als in St. Petersburg, sechs insgesamt, weil die Stadt drei Spiele von Dublin übernahm, ein Viertelfinal am 2. Juli folgt noch. Gästefans aus fünf Ländern reisten an, mehr als 100’000 Zuschauer kamen insgesamt zu den Spielen ins Stadion, etwa jeder zweite Platz durfte dort besetzt werden.
In der Stadt bleiben mehrere Fanzonen bis zum Final stehen; eine eröffnet sogar erst zu Beginn der Viertelfinals. EM-Euphorie kam zwar nie so recht auf, doch rund um die Auferstehungskirche mit ihren bunten Zwiebeltürmen herrschte besonders zu russischen Spielen Volksfeststimmung. Strassenmusiker spielten, singend zogen die Anhänger durch die Strassen. Und St. Petersburgs Weisse Nächte lockten nicht nur Fussballfans nach draussen, in die Restaurants und Bars. Schon nach den ersten EM-Tagen stand die Stimmung in Russlands zweitgrösster Stadt in krassem Widerspruch zur Corona-Lage im Land.
![Hände hoch und ohne Maske: Russische Anhänger auf der Fanmeile in St. Petersburg.](https://cdn.unitycms.io/images/70acznycaorAkuNL0vZ_PY.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=5qMYq1NO2s4)
Russland ist nahezu unbekümmert in die dritte Welle geschlittert, so wirkt es. Erst vor zwei Wochen gab es die erste spürbare Reaktion auf die steigenden Zahlen: In Moskau verordnete Bürgermeister Sergei Sobjanin den Menschen eine Woche Zwangsurlaub. Seither kommen fast täglich neue Massnahmen hinzu, die weitreichendste ist eine Impfpflicht für Berufstätige, die Kontakt mit Kunden, Gästen, Patienten oder Schülern haben. Unternehmen in diesen Bereichen, etwa Restaurants und Krankenhäuser oder Taxiunternehmen, müssen knapp zwei Drittel ihrer Mitarbeiter jetzt durchimpfen lassen. Wer das Vakzin ablehnt, dem droht bald, dass er unbezahlt freigestellt wird.
In der russischen Hauptstadt mit ihren 15 Millionen Einwohnern waren die Corona-Massnahmen von Anfang an am härtesten, der Kontrast zwischen Lockdown und Lockerung aber auch am grössten. Über Monate waren die Moskauer 2020 in ihren Wohnungen eingesperrt, nach der Öffnung kehrte die Stadt dann so schnell zur Normalität zurück, dass Maskenpflicht, Abstandsempfehlung und Inzidenzzahlen bald in Vergessenheit gerieten – wie fast überall im Land.
Die Menschen sträuben sich
Das zweite Problem ist die versäumte Chance der Russen, sich früh impfen zu lassen. Dem Kreml war zwar wichtig, mit Sputnik V als erstes Land weltweit einen Impfstoff für die breite Bevölkerung zuzulassen. Bereits seit Ende letzten Jahres kann sich praktisch jeder ohne Termin seine Impfdosis abholen. Trotzdem sind laut Regierung erst 16 Millionen Russen vollständig geimpft, das wären nur etwa elf Prozent der Bevölkerung. Vor allem liegt das an der grossen Skepsis der Russen – Umfragen zufolge sträuben sich weiterhin etwa zwei Drittel gegen eine Impfung.
![Die Fanmeile in St. Petersburg ist sehr gut besucht.](https://cdn.unitycms.io/images/4Z3EkPBuaKeBwZQxa0Rgc_.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=fix-QG8Ilpo)
Doch wie wirksam Sputnik V gegen die Mutation schützt, ist unklar. Moskaus Bürgermeister Sobjanin warnte bereits davor, dass sich auch Geimpfte schneller mit der Delta-Mutation anstecken als mit früheren Varianten. Aus St. Petersburg dringen nun wieder Bilder und anonyme Berichte wie zu Beginn der Pandemie ins Internet, von Krankenwagen, die vor den Notaufnahmen Schlange stehen, und Patienten, die auf Matratzen auf den Fluren liegen.
Pflästerlipolitik: 3000 statt 5000
Die Reaktionen auf die explodierenden Zahlen sind halbherzig. Während in Moskau eine Fanmeile schliessen musste, wurde in St. Petersburg nur die Kapazität reduziert, von 5000 auf 3000. Es wurden eher harmlose Einschränkungen beschlossen, etwa wurde die Maskenpflicht bei Events auch im Freien eingeführt und der Essensverkauf verboten. Während Restaurants in Moskau jetzt nur bis 23 Uhr öffnen dürfen, schliessen sie in St. Petersburg lediglich nachts von 2 bis 6 Uhr, deshalb sind sie aber kaum leerer. Und die neuen Regeln traten erst nach dem zweiten von zwei russischen Heimspielen in Kraft.
Ein Verkäufer von Souvenirs und Fanartikeln erzählte, dass er viel Geld bezahlen musste für die Lizenzen der Uefa. Würde die Fanzone vor dem Ende der EM schliessen, «wäre das schrecklich fürs Geschäft». Er sprach von Monaten der Entbehrung, nicht nur beruflich, und sagte: «Wir brauchten ein Fest.»
Dann erzählte er von einem Freund, der mit Corona im Krankenhaus lag, und dass er es selbst vor kurzem schon hatte, mit vergleichsweise milden Symptomen. Auch er habe Angst davor, dass es wieder schlimmer werde. «Wir wissen, was los ist. Wir wissen, dass Leute jeden Tag sterben», sagte er. Doch wie sie mit dem Risiko umgehen, das müssten die Leute selbst entscheiden.
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