Kolumne von Michael HermannAuch wenn die grüne Welle verebbt
Trotz Hitzesommer blieb die Klimajugend heuer stumm. Die Chancen für eine echte Energiewende waren dennoch noch nie so gross wie jetzt.

Erst protestierte Greta Thunberg allein, dann mit den Aktiven einer ganzen Generation. Erst waren es nur vereinzelte Zugewinne, dann erfasste eine mächtige grüne Welle weite Teile Europas und bei den Wahlen 2019 schliesslich auch die Schweiz. Begonnen hatte dies alles jedoch mit dem Hitzesommer 2018, der Greta auf die Strasse trieb und die Realität des Klimawandels erstmals wieder in einer breiten Öffentlichkeit verankerte.
2022 – vier Jahre später erlebt Europa erneut einen von Dürre und Hitze geprägten Sommer. Bedrohliche Wetterrekorde werden derart rasch und leicht gebrochen, dass selbst Expertinnen und Experten erschrecken. Und auch diesmal folgt auf den Hitzesommer ein Wahljahr in der Schweiz. Nicht nur die aktuelle Tamedia-Umfrage deutet jedoch darauf hin, dass die grüne Welle dieses Mal, statt weiter an Stärke zu gewinnen, eher an Kraft verliert.
Was paradox erscheint, hat eine innere Logik. Die Grosswetterlage ist eine andere als vor vier Jahren. Die späten 2010er-Jahre bildeten den Höhepunkt und Abschluss einer Ära der Prosperität, was vielen womöglich erst mit zeitlichem Abstand so richtig bewusst werden wird. Mit anhaltendem Wohlstand und Stabilität im Rücken sind damals immer mehr Menschen nach oben an die Spitze der maslowschen Bedürfnispyramide geklettert. Die Klimabewegung von 2018/19 war entsprechend durch postmaterielle Werte geprägt: Klimaschutz nicht aus Eigennutz, sondern für unsere Erde, für Pflanzen, Tiere und die kommenden Generationen.
Nach Corona und dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die Ära der Prosperität fürs Erste vorbei. Steigende Preise, Versorgungskrise und drohende Rezession haben die politische Debatte auf den harten Boden materieller Interessen zurückgeholt. Trotz Hitzesommer ist deshalb die Klimajugend stumm geblieben, und die grüne Welle verliert an Kraft. Anders als von vielen vermutet, verschwindet damit das Klima in keiner Weise aus dem Bewusstsein. Spätestens mit diesem Sommer ist es nämlich selbst auf dem harten Boden materieller Interessen gelandet. Wenn nicht nur Putin, sondern auch anhaltende Dürren zu Engpässen bei der Energieversorgung führen, dann geht es nicht mehr «nur» um eine bessere Welt, sondern ganz direkt ums liebe Geld.
Drei von vier Schweizerinnen und Schweizern wollen eine beschleunigte Energiewende.
Der Klimawandel hat sich in aller Eile in ein Sicherheits- und Wohlstandsthema verwandelt. Das hat auch problematische Seiten. Wem das Wasser bis zum Hals steht, baut als Erstes einen Damm und sorgt sich erst später um seine CO₂-Bilanz. Eine sich rasch verschärfende Klimakrise birgt die Gefahr eines teuflischen Kreislaufs: mehr Trockenheit – mehr Wasseraufbereitung; mehr Hitze – mehr Klimaanlagen; mehr Fluten – mehr Verbauungen; mehr Verbrauch – mehr Nachfrage nach fossilen Brennstoffen. Anpassen, anpassen – solange es noch geht.
Dieses düstere Szenario steht jedoch nur für eine mögliche Realität. Die aktuelle Entidealisierung der Klimafrage raubt der grünen Welle zwar an Kraft. Sie verschafft dem Thema im Gegenzug aber mehr politische Breite. Eine von einer «idealistischen» Minderheit getragene grüne Welle bringt dem Klima wenig, wenn die «materialistische» Mehrheit, wie im Sommer 2021 geschehen, das darauf bauende CO₂-Gesetz ablehnt.
Erst jetzt, wo Investition in erneuerbare Energien nicht nur aus ökologischen Gründen angezeigt sind, sondern ganz unmittelbar einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten, entsteht in der Gesellschaft ein stabiles Fundament für die grosse Anbauschlacht. Drei von vier Schweizerinnen und Schweizer wollen eine beschleunigte Energiewende. Das zeigt unsere aktuelle Sotomo-Studie für die BKW. Und es sind Wasserkraft und Fotovoltaik, die dabei besonders breiten Rückhalt in der Bevölkerung geniessen – auch direkt in der eigenen Nachbarschaft. Das heisst konkret: Auch wenn die grüne Welle verebbt, die Chancen für eine echte Energiewende waren noch nie so gross wie jetzt.
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