Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Milei und die Diktatur
Warum in Argentinien Archivare entlassen und diffamiert werden

Argentine President Javier Milei delivers a speech during the Americas Society/Council of the Americas conference in Buenos Aires on August 14, 2024. (Photo by Juan Mabromata / AFP)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Auf den ersten Blick war es ein unverfängliches Foto. Ein Raum, der eine Kapelle zu sein scheint, im Hintergrund ein Kreuz und ein Altar, davor eineinhalb Dutzend Männer und Frauen, ein paar lächeln freundlich. So weit, so harmlos.

Allerdings wurde das Bild in einem Gefängnis aufgenommen, in Ezeiza, einer Stadt ein paar Kilometer ausserhalb der argentinischen Metropole Buenos Aires. Und ein Teil der Abgebildeten sind zwar Abgeordnete der Partei La Libertad Avanza, zu der auch Argentiniens Staatspräsident Javier Milei gehört. Der Rest allerdings sind fast durchwegs Kriminelle, verurteilt nicht aufgrund von Bagatelldelikten, sondern wegen Menschenrechtsverbrechen, begangen während der letzten Militärdiktatur in Argentinien in den 70er- und 80er-Jahren.

Ganz rechts zum Beispiel steht Antonio Pernías: Der heute 77-Jährige soll damals inhaftierte Regimegegnerinnen vergewaltigt und gefoltert haben, selbst dann noch, als diese von ihm schwanger waren. Adolfo Donda, gleich neben ihm, arbeitete ebenfalls für die Armeeführung. Er wurde unter anderem wegen mehrfachen Mordes und Freiheitsberaubung verurteilt. Und ganz hinten auf dem Bild ist auch noch Alfredo Astiz zu sehen, Spitzname «Der Todesengel», einer der berüchtigtsten Schergen der Junta.

Will Milei die Geschichte umdeuten?

Sie habe nicht gewusst, wen sie da besuche, erklärte Lourdes Arrieta, eine der Abgeordneten, nachdem das Foto vor ein paar Wochen an die Öffentlichkeit gelangt war. Mittlerweile hat die Politikerin aber selbst Chats veröffentlicht, die belegen, dass alle Beteiligten genau informiert waren, wen sie da im Knast trafen. In Argentinien sorgt die Episode jedenfalls seit Wochen für Schlagzeilen, auch deshalb, weil sie für viele im Land ein weiterer Beweis dafür ist, dass die neue rechts-libertäre Regierung von Staatschef Javier Milei nicht nur die schwer angeschlagene Wirtschaft radikal umbauen will, sondern auch die Geschichte umdeuten möchte, ganz besonders in Bezug auf die Militärdiktatur.

Abgeordnete von Mileis Partei La Libertad Avanza gemeinsam mit verurteilten Vergewaltigern, Folterern und Mördern.

Diese gilt als eine der blutigsten von Südamerika. 1976 hatten sich die Generäle an die Macht geputscht, angeblich, um Ordnung zu schaffen in einem Land, in dem linke Guerillas damals Anschläge verübten und rechte Todesschwadronen mit Massakern antworteten. Ein «Prozess der nationalen Reorganisation» wurde von der Armeeführung ausgerufen, doch dieser umfasste nicht nur neoliberale Reformen, sondern auch brutale Repression. Gewerkschaftler, Politikerinnen und Aktivisten wurden entführt, gefoltert und ermordet, ebenso linke Studenten, Schüler, Hausfrauen, Nonnen. Manchmal wurden Leichen gefunden, viele Opfer aber blieben verschwunden, bis heute.

Argentinien ist Südamerikas Sonderfall

Ähnliche Gräuel gab es auch in Chile, in Brasilien oder Paraguay. Argentinien bleibt dennoch ein Sonderfall: Zum einen, weil hier mehr Menschen von den Militärs ermordet wurden als anderswo, etwa 30’000, schätzen Experten. Und während in vielen südamerikanischen Ländern die Generäle kaum belangt wurden, wurde in Argentinien den Hauptverantwortlichen schon 1985 der Prozess gemacht – nur zwei Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie.

2003 wurden vom argentinischen Kongress dann auch noch eine generelle Amnestie annulliert und Begnadigungen aufgehoben. Hunderte Verfahren wurden eingeleitet, mehr als 1000 Täter verurteilt. Folterzentren wurden zu Erinnerungsstätten, Opfer entschädigt und die Auseinandersetzung mit dem Staatsterrorismus in die Lehrpläne integriert. Argentinien galt weltweit als Vorbild für gelungene Vergangenheitsbewältigung. Dann aber kam Javier Milei.

Vergangenes Jahr war der 53-jährige selbst ernannte Anarcho-Kapitalist zum Präsidenten gewählt worden. Im Wahlkampf schwenkte er gerne eine Motorsäge als Symbol dafür, wie er den Staat zurechtstutzen würde, sollte er die Abstimmung gewinnen. Dazu schimpfte er aber auch lautstark gegen Kommunisten und Linke. Und auch, was die Diktatur angeht, machte Milei früh seine Meinung klar: In einer Präsidentschaftsdebatte klagte er über eine «einäugige» Sicht auf die Geschichte in Argentinien. Das Land habe sich in 70er-Jahren in einem «Krieg» befunden, linke Guerillas gegen den Staat und die Armee. Dabei sei es zu «Exzessen» gekommen. Punkt.

Mileis Vizepräsidentin, Victoria Villarruel, vertritt noch radikalere Positionen. Sowohl ihr Grossvater als auch ihr Vater bekleideten hohe Posten in der Armee, Letzterer auch während der Diktatur. Die Vizepräsidentin ist dazu Gründerin von CELTYV, einer Organisation, deren erklärtes Ziel es ist, den «Opfern des Linksterrorismus» im Land eine Stimme zu geben. Statt immer nur über die Gräuel der Diktatur zu sprechen, sollte man doch auch mal die Untaten der Guerilla beleuchten, findet Villarruel. Dass diese Auseinandersetzung schon stattgefunden hat und einige der Täter aus den linken Gruppen später auch verurteilt wurden, spielt dabei keine Rolle.

Milei streicht Mittel für Erinnerungsarbeit

Während Milei und Villarruel am Unabhängigkeitstag Argentiniens eine grosse Militärparade veranstalten liessen und die Regierung für Hunderte Millionen Dollar Kampfflugzeuge kauft, werden nun jedenfalls die Mittel für Menschenrechts- und Erinnerungsarbeit gestrichen, offiziell wegen Geldmangel. Gedenkstätten müssen Mitarbeiter entlassen, und das Verteidigungsministerium kürzte ein Team von Archivaren fast vollständig zusammen. Dieses hatte zuvor geholfen, Beweise gegen Diktaturverbrecher zu sammeln. Menschenrechtsverbände lobten die Arbeit der Archivare, Verteidigungsminister Luis Petri nannte sie stattdessen ein «Verfolgungsteam».

Mitte August wurde dann auch noch per Dekret eine Unterbehörde aufgelöst, die sich darum gekümmert hatte, die einst von der Diktatur verschleppten Babys wiederzufinden. Denn immer wieder hatte die Junta den von ihr entführten Regimegegnern deren Kinder entrissen und sie unter falschen Namen in Adoption gegeben, meist an Familien aus der Armee, manchmal aber auch an die Folterknechte selbst.

Einer dieser Fälle ist der von Ezequiel Rochistein Tauro: Seine Eltern waren 1977 entführt und ermordet worden. Rochistein kam in einem der geheimen Folterzentren zur Welt und wurde von einem Schergen der Diktatur unter falschen Namen grossgezogen. 2010 konnte der heute 47-Jährige dank einer Suchaktion seine wahre Identität herausfinden. Rochisteins Entführer, Juan Carlos Vázquez Sarmiento, wurde im März 2023 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Auf dem Foto mit den Abgeordneten von Javier Mileis Partei La Libertad Avanza steht er ganz links.