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Corona-Krise in Lateinamerika
Angst vor einem Massensterben

Ein Mitglied der indigenen Gruppe der Pataxo nahe des Dorfes Nao Xoha.
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Um nach Santo Antonio do Içá zu kommen, muss man von der Amazonas-Metropole Manaus aus für mehrere Stunden ein Kleinflugzeug nehmen oder fast 1000 Kilometer mit dem Boot flussaufwärts fahren. Der Bezirk liegt tief im brasilianischen Amazonasbecken, fast im Herzen des südamerikanischen Kontinents. Hier gibt es dichte Wälder und kaum eine Straße, dies alles aber konnte das Sars-CoV-2-Virus nicht aufhalten, denn längst wurden auch in Santo Antonio do Içá erste Fälle der Lungenkrankheit registriert, und seit gestern ist klar, dass unter den Infizierten auch eine junge Frau vom Volk der Cocama ist. Es ist der erste Fall einer Infektion in einer traditionellen Gemeinschaft in Brasilien und ein weiteres Alarmsignal für Indigene auf dem ganzen Kontinent.

Mehrere Hundert indigene ethnische Gruppen und Völker gibt es in ganz Lateinamerika, darunter grosse wie die Aymara, die in Bolivien fast ein Drittel der Bevölkerung stellen, oder die Guaraní, deren Sprache in Paraguay heute sogar Amtssprache ist. Genauso aber gibt es kleine Gemeinschaften mit kaum mehr als ein paar Hundert Mitgliedern, die abgelegen oder sogar noch unkontaktiert in ihren Gebieten leben. Angesichts der weltweiten Coronavirus-Epidemie fürchten Experten und indigene Führer nun, dass Covid-19 zum Massensterben in diesen traditionellen Gemeinschaften führen könnte.

Immer wieder haben eingeschleppte Krankheiten zu Epidemien geführt

Es wäre nicht das erste Mal: Immer wieder haben eingeschleppte Krankheiten in der Vergangenheit Epidemien in der damals sogenannten Neuen Welt ausgelöst. Als die Europäer nach Amerika kamen, hatten sie nicht nur das Christentum im Gepäck, sondern auch Masern, die Pocken oder die Grippe. Krankheiten also, gegen die die Menschen in Lateinamerika anders als die Spanier oder Portugiesen noch keine Abwehrkräfte entwickelt hatten. Wie viele Menschen in den folgenden Jahrhunderten an den Seuchen starben, ist ungewiss, manche Rechnungen gehen von bis zu 90 Prozent der indigenen Bevölkerung aus, Millionen Menschen also.

Beim Ausbruch der Schweinepest in den USA, Kanada und Australien waren die Todeszahlen in den dortigen traditionellen Gemeinschaften drei bis sieben Mal so hoch wie im Rest der Bevölkerung. Ähnliche Zahlen für Lateinamerika gibt es nicht, sicher ist nur, dass die Sorge der Menschen vor einem Ausbruch der Seuche in ihren Gruppen berechtigt ist. Auch in der jüngeren Vergangenheit sind immer wieder nahezu ganze Stämme an einfachen Grippen gestorben, nachdem diese von Regierungsmitarbeitern oder Missionaren eingeschleppt worden waren.

Viele Völker versuchen, sich selbst zu isolieren. Doch das ist gar nicht so leicht: Indigene Gruppe in São Joaquim de Bicas, Brasilien.

Medizinisch gesehen sind Indigene grundsätzlich nicht stärker gefährdet durch das Virus als ein Infizierter in New York oder Oberbayern. Allerdings sind die Lebensumstände vieler traditioneller Gemeinschaften ein Risiko: Manche Völker leiden auch so schon an Mangelernährung und Gesundheitsproblemen. Der Weg zum Arzt bedeutet oft stunden- oder sogar tagelange Bootsfahrten. Und nicht zuletzt könnte sich das Coronavirus in vielen Gemeinschaften schnell verbreiten, weil sie oft eng zusammenleben, in Hütten ohne Trennwände, in denen soziale Isolation nicht gewünscht und ohnehin kaum möglich ist.

Wenn die Sars-CoV-2-Infektionen im grossen Massstab indigene Gebiete erreichen, könnten die traditionellen Gemeinschaften im gesamten Amazonasbecken ausgelöscht werden, fürchtet Marlon Vargas, Präsident der Confeniae. Der Dachverband der Indigenen im ecuadorianischen Amazonasbecken hat die Warnungen der Regierung in lokale Sprachen übersetzt und alle Zugänge zu indigenen Gebieten sperren lassen. Ähnliche Vorsichtsmassnahmen haben auch Gemeinschaften in Kolumbien und Brasilien unternommen.

Holzfäller, Goldsucher, Schmuggler und Missionare sind die grosse Gefahr

Gleichzeitig versuchen sich Stämme, soweit es geht, selbst zu isolieren. Die Nukak in Kolumbien haben sich Ende letzter Woche aufgemacht zurück in die Wälder, ebenso wie die Waorani in Ecuador oder die Arhuaco aus der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien. In der Abgeschiedenheit der Natur, hoffen sie, wird das Virus sie nicht erreichen. Allerdings sind ihre Gebiete, so abgelegen sie auch sein mögen, längst das Ziel von Holzfällern, Goldsuchern, Drogenschmugglern und dazu auch noch von christlich-fundamentalistischen Gruppen. Besonders radikale Missionsvereinigungen wollen um jeden Preis das Wort Gottes auch bei den letzten unkontaktierten Gemeinschaften auf der Welt verbreiten.

So hat die evangelikale Vereinigung Ethnos 360 mit Spendengeldern einen Hubschrauber gekauft und diesen am Rande des Vale do Javari stationiert, einem Gebiet so gross wie Österreich, in dem mindestens ein Dutzend unkontaktierter Stämme leben. Von der brasilianischen Regierung können die Menschen keinen Schutz erwarten: Der offizielle Beauftragte der Indianerbehörde Funai für unkontaktierte Stämme war selbst einmal ein evangelikaler Missionar. Und so steigt das Risiko, dass das Coronavirus selbst zu Menschen kommt, noch bevor die sogenannten Segnungen der Zivilisation sie erreicht haben.

Die Infizierte vom Stamm der Cocama in Santo Antonio do Içá ist mittlerweile isoliert. Sie hatte sich vermutlich bei einem Arzt angesteckt.