Sexismus in der SchuleAm ersten Schultag standen Kleiderkontrolleure vor der Tür
Genfer Schülerinnen fühlen sich diskriminiert und tragen ihre Wut auf die Strasse. Kleiderordnungen an Schulen werden auch in der Deutschschweiz kontrovers diskutiert.
Das Wetter wird kühler. Kurz geschnittene T-Shirts werden seltener. Es ist also nicht die Zeit, in denen Genfer Oberstufenschülerinnen mit Vorhaltungen rechnen müssen, sie würden zu knappe Kleider tragen. Doch im Sommer war alles anders. Diese Woche gingen in Genf junge Frauen auf die Strasse. Sie protestierten, weil sie an Schulen Schlabbershirts tragen müssen, wenn die Pädagogen ihre Kleider als zu aufreizend empfinden. Was ist passiert?
«Ich trug einen Pullover mit geschlossenen Kragen, der aber kurz war, sodass man meinen Bauchnabel sah. Also händigte man mir in der Schule ein übergrosses T-Shirt aus, das ich mir überziehen musste», empört sich eine Schülerin des Collège de la Panchard. Auch Eltern nerven sich. Eine Mutter erzählt: «Am ersten Schultag nach den Sommerferien stellten sich Mitarbeiter der Schulverwaltung vor die Tür und wiesen jene Mädchen zur Seite, die gemäss ihren Kriterien zu knapp bekleidet waren. Sie mussten ein Shirt in Übergrösse anziehen, wenn sie ins Klassenzimmer wollten», so die Frau. Auf den XXL-Shirts des Collège de la Panchard steht: «Ich trage korrekte Kleider!» Darüber prangt der nach oben gestreckte Daumen, wie man ihn von Facebook kennt. Wer das Shirt nicht tragen wollte, wurde zum Umziehen nach Hause geschickt.
Unter dem Hashtag #TshirtDeLaHonte diskutieren Twitter-Nutzer die Genfer Schulkleiderordnung seit Tagen. Am Freitagabend hat die Debatte den Genfer Kantonsrat erreicht. Die Fraktion von «Ensemble à Gauche» reichte eine dringende Motion ein. Sie fordert: An Genfs Schulen dürfe niemand wegen «als falsch, unzulässig oder anstössig angesehener Kleidung erniedrigt und nach Hause geschickt werden». Solche Sanktionen seien «willkürlich, demütigend und diskriminierend». Im Schulgesetz stehe, dass jeder Schüler das Recht auf «den besonderen Schutz seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit und die Achtung seiner Würde» habe.
«2020 werden die Schüler in der Schweiz in einem patriarchalen Umfeld ausgebildet.»
Von «mittelalterlichen Methoden» spricht die 66-jährige linke Genfer Kantonsrätin Jocelyne Haller. Das sieht ihre 23-jährige Ratskollegin Dilara Bayrak (Grüne) genauso. Sie sagt: «Mich nervt die ständige Einmischung der Gesellschaft in die Art und Weise, wie sich Frauen kleiden. Wenn ein Stück Stoff Bauchnabel, Schulter oder Oberschenkel nicht verdeckt, wird das als provokativ empfunden und führt zur Stigmatisierung junger Frauen. Junge Männer mussten die Shirts wohl noch nie tragen.» Das sei beschämend. «2020 werden die Schüler in der Schweiz in einem Umfeld ausgebildet, in dem das Patriarchat strukturell ist, und das man nur dann infrage stellt, wenn sich die Zivilgesellschaft daran stört», stellt Bayrak fest.
Bildungsdirektorin verteidigt sich
Die Genfer Bildungsdirektorin Anne Emery-Torracinta (SP) verteidigte die Kleiderordnung hingegen in einem Interview mit der Zeitung «Tribune de Genève». «Der Gesetzgeber und das Departement wollen, dass die Schüler angemessen gekleidet sind», sagte Emery-Torracinta. Die Schule sei «ein Ort des Lernens, und es sollte keine Hindernisse geben. Auch in der Geschäftswelt, auf die wir junge Menschen vorbereiten, gelten ziemlich klare Regeln», sagte die SP-Frau. Trotzdem will sie sich nun mit den protestierenden Jugendlichen zu einer Aussprache treffen.
Die Diskussionen über Kleider häufen sich auch an Deutschschweizer Schulen – und werden hitziger. Die Aargauer SP-Grossrätin Lelia Hunziker kritisierte kürzlich in einer Kolumne der «Aargauer Zeitung» die restriktiven Methoden einzelner Gemeinden. Es stört sie, dass Schülerinnen und Schüler neuerdings einen schriftlichen Eintrag im Zwischenzeugnis bekommen, wenn sie sich nicht angemessen kleiden. Wenn Schulen bewerten, was passend beziehungsweise anständig seio, sei das heikel, schrieb Hunziker. Zwischenzeugnisse würden von den Lehrbetrieben später genau angeschaut.
«Der Ausschnitt verbirgt Ansatz und BH»
Die Kreisschule Aarau-Buchs, die grösste Schule im Kanton, hatte die neue Kleiderordnung erlassen. Der Punkt «Ist für den Unterrichtsanlass passend gekleidet» ist neu ein Indikator im Zwischenzeugnis. Die Schule Merenschwand wiederum legte die Kleiderordnung per Schuljahr 2017/18 mit einer Zeichnung und Legenden fest. Da heisst es etwa: «Der Ausschnitt verbirgt den Ansatz und den BH» oder «Falls Leggins: Nie ohne etwas drüber». Oder für Jungen: «Trainerhosen gehören in den Sportunterricht.» Und in Seengen mussten unpassend gekleidete Schüler ein übergrosses T-Shirt anziehen, wie die Schüler Genf.
Kathrin Scholl, Präsidentin des Aargauer Lehrerverbands, hält nicht viel von Restriktionen. Sie lehnt Kleiderreglemente und Sanktionen ab und setzt auf Gespräche und Intervention nach Augenmass. Wenn die Schule bei den Kleidern so genaue Vorschriften mache, müsste sie gemäss Lehrplan auch kontrollieren, ob die Schüler ausgeschlafen seien und was sie zum Frühstück hätten, findet Scholl. Das alles werde unter Selbst- und Sozialkompetenz subsumiert, für welche die Eltern grundsätzlich zuständig seien und die Schule einen groben Rahmen vorgebe. «Wer sagt, was Trainerhosen sind? Es gibt teure Boutiquen, die Hosen verkaufen, die wie Trainerhosen aussehen», sagt Scholl, die 17 Jahre in der Primar- und Sekundarschulstufe unterrichtet hat.
«Wenn ein Mädchen nach den Ferien sein neues Trägershirt vorführen will, ist das doch nicht so schlimm.»
Sie sagt: «Wenn ein Mädchen nach den Ferien sein neues Trägershirt vorführen will, ist das doch nicht so schlimm.» Das Gespräch suchen würde sie, wenn ein Kind konstant und auch mit Blick auf die Witterungsverhältnisse unpassend gekleidet wäre.
Dennoch anerkennt sie, dass der Umgang mit dem Thema für die Schulen und die Lehrer nicht einfach sei. In manchen Fällen werde die Rechtsauskunft des Lehrerverbands beansprucht. «Der Spiess wird dann auch mal umgekehrt, dann heisst es: Warum starrt dieser Lehrer mir denn immer auf die Brüste?» Manche Schüler setzten die Kleidung bewusst als Provokation ein, sagt Scholl.
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