Alpinwandern am TödiUnterwegs im rauen Herzen der Glarner Alpen
Auf der Via Glaralpina zeigt sich das Glarnerland als Wanderparadies. Doch das muss man sich erst verdienen. Manchmal ist es erst Liebe auf den zweiten Blick.
Der Mann im Kassenhäuschen in Urnerboden seufzt. Wenn wirs bar hätten, könnten wir gleich mit der nächsten Gondel mitfahren, sagt er. Haben wir. Erleichtert schiebt er das Kartenlesegerät beiseite. Dann kommt er heraus, legt unsere Rucksäcke in den Materialkorb, schliesst hinter uns die Tür der Kabine.
Und schon schweben wir in der Gondel Richtung Fisetengrat. Unter uns weitet sich das Hochtal von Urnerboden zu seiner ganzen Länge vom Klausenpass bis unter den Ortstock, im Norden baut sich der schroffe Grat der Jegerstöck auf.
Wir teilen die Gondel mit zwei Einheimischen in Bergsteigerkluft. Beste Gelegenheit, nach dem neuen Alpinwanderweg zu fragen. Der blau-weiss markierte Weg führt vom Gemsfairenjoch steil hinab und ein kurzes Stück über den Claridenfirn zur gleichnamigen Hütte, unserem Tagesziel.
Zwei einsame Wölfe. Schroff und abweisend wie die Glarner Berge.
In jüngsten Interneteinträgen steht, die Passage über den Gletscher sei ausgeapert, steil und heikel, und auch die Hüttenwartin hatte empfohlen, Steigeisen mitzunehmen. Er habe die Steigeisen immer dabei, sagt der eine achselzuckend. Der andere meint, er wolle am nächsten Tag auf den Tödi und gehe deshalb über den normalen Weg. Mehr ist aus den beiden nicht herauszubringen. Zwei einsame Wölfe.
Steigeisen haben wir nicht eingepackt. So bleiben wir bei unserem Plan, im Zweifelsfall umzukehren, zur Bergstation zurück und auf dem normalen Bergwanderweg in die Hütte zu gehen. Den Blick vom Gemsfairenstock wollen wir aber auf keinen Fall missen: Nirgendwo hat man eine bessere Sicht auf die Glarner Alpen mit ihrem Herzstück und höchstem Gipfel, dem Tödi.
In der Fortsetzung des Fisetengrats steigt unser Weg stetig an. Bald lassen wir die Alpweiden hinter uns. An ihre Stelle tritt eine archaische Landschaft aus Fels, Schutt und Geröll. Unterwegs machen wir uns einen Spass daraus und fragen alle, die uns entgegenkommen, nach dem neuen Alpinwanderweg. Hilfreich ist ein junges Wanderpaar, das über den Gletscher aufgestiegen ist. Vom Joch aus könne man fast die ganze Passage einsehen, sagen sie. Wir ziehen weiter, steigen gleich ganz auf und gelangen über einen kurzen Grat zum Gipfelkreuz auf dem Gemsfairen.
Hier ist er zum Greifen nah, der Tödi. Er sieht aus wie eine Trutzburg mit vergletscherter Kappe, die in der Sonne glitzert.
Beim Tödi wurde Bergsteigergeschichte geschrieben: Im Gründungsjahr des Schweizer Alpenclubs vor mehr als 150 Jahren bauten die frühen Schweizer Bergsteiger an seiner Ostflanke die Grünhornhütte, um von dort aus den 3612 Meter hohen Gipfel zu erklimmen.
Wo die Erde ihr Innerstes nach aussen gekehrt hat
Der Tödi ist ein wuchtiger Kalkklotz auf kristallinem Sockel inmitten einer Arena, in der die Erde ihr Innerstes nach aussen gekehrt hat. Die berühmte Glarner Hauptüberschiebung, bei der sich die tektonischen Platten der Alpenfaltung gut sichtbar übereinanderlagern, liegt zwar weiter östlich. Doch auch hier haben die Erdkräfte wilde Farbwechsel und kühne Faltenwürfe geknetet.
Ein deutlich erkennbares rotes Band zieht sich über die Nordwand des Bifertenstocks. Der Fuss des Tödis leuchtet in rötlichem Gestein, daneben flammen ockerfarbene Geröllfelder durchsetzt mit grün bewachsenen Streifen. Direkt unter uns spannt der Claridenfirn seine gleissende Fläche zum Horizont. Die urwüchsige Landschaft aus Fels und Eis lässt uns in der Gegenwart der Erdgeschichte versinken.
Der Abstieg zum Claridenfirn allerdings ist wirklich nur geübten Alpinwanderern oder Bergsteigerinnen vorbehalten. Einen Weg können wir kaum erkennen, zuweilen rutscht das Geröll unter den Füssen, oder der Schutt ist vom Schmelzwasser aufgeweicht. Wir umgehen die Randspalten des Firns und suchen uns mit dem Schutt einen Weg über das Blankeis, Steigeisen oder Spikes wären tatsächlich eine Hilfe. Doch die Passage ist kurz.
Zurück auf festem Grund sehen wir unser Tagesziel. Die Claridenhütte steht auf einem grün bewachsenen Vorsprung wie eine Insel inmitten der aufgeworfenen Blockfelder dieser Urlandschaft. Hühner gackern im Gras. Kräuter wachsen in Pflanzbeeten vor der sorgfältig renovierten Hütte. Die Wartin hat Liegestühle aufgestellt.
In der Nachmittagssonne auf der Hüttenterrasse planen wir unsere nächsten Tourentage. Den Abstecher zur Planurahütte, die auf einem von Gletschern umflossenen Felssporn sitzt, sparen wir uns für ein andermal. Ebenso die Dinosaurierspuren.
Einen Besuch der Grünhornhütte wollen wir jedoch nicht auslassen. Der ruppige Aufstieg zum historischen Unterstand belohnt mit einem spektakulären Tiefblick auf den wild zerklüfteten Bifertenfirn.
Drei Tage und eine Überschreitung über den Kistenpass ins nächste Tal später hält ein Auto am Strassenrand, und ein Glarner nimmt uns auf dem Heimweg mit. Der 82-Jährige hat Freunden beim Wildheuen geholfen. Wenige Tage zuvor hat er dieselbe Wanderung wie wir gemacht.
Zunächst will er uns bis zum Bahnhof Elm fahren, dann bis Schwanden, schliesslich verabschiedet er uns auf dem Bahnhofplatz in Glarus. Viel zu schnell lassen wir auf der Autobahn die raue Welt der Glarner Alpen hinter uns. Mit der Landschaft ist es wie mit den Leuten, eine Liebe auf den zweiten Blick.
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