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Interview mit Huldrych Günthard
Ist das das Ende von Aids?

Indian HIV-AIDS activists dressed in skeleton costumes participate in an awareness rally to mark World AIDS Day in Agartala, the state capital of India's northeastern state of Tripura on December 1, 2008. Accurate estimates of HIV indicate that approximately 2.5 million (2 million -3.1 million) people in India were living with HIV in 2006, with national adult HIV prevalence of 0.36%. Although the proportion of people living with HIV is lower than previously estimated, India’s epidemic continues to affect large numbers of people according to UNAIDS (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS). The northeast of India which borders the opium-producing Golden Triangle of Myanmar, Thailand and Laos has been declared one of India's high-risk zones with close to 100,000 people infected with HIV, many of whom are intravenous drug users. AFP PHOTO/BAPI ROY CHOUDHURY (Photo by BAPI ROY CHOUDHURY / AFP)
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Herr Günthard, in der Schweiz soll es ab 2030 keine HIV-Ansteckungen mehr geben. Das ist das Ziel eines neuen nationalen Aktionsplans, das der Bundesrat unlängst verabschiedet hat. Wie realistisch ist das?

Das Ziel lässt sich durchaus erreichen. Die HIV-Therapien sind heute sehr wirksam. Durch die Behandlung ist die Viruslast bei den Infizierten meistens so stark supprimiert, dass sie nicht mehr ansteckend sind. Hinzu kommt die Präexpositionsprophylaxe, PrEP, die für Personen mit Risikoverhalten seit einigen Jahren verfügbar ist.

Das wäre das Ende des Aidsvirus?

Nein, auch wenn das vielleicht bei vielen so rüberkommt. HIV wäre damit nicht ausgerottet, denn das Virus bleibt im Körper bis zum Lebensende. Ohne Behandlung vermehrt sich das Virus wieder. Aber wenn sich keine oder nur noch sehr wenige Menschen mehr anstecken, wäre sicher viel erreicht.

Die PrEP besteht aus antiviralen Medikamenten, die das Risiko einer Ansteckung stark senken. Neu sollen die Krankenkassen dafür aufkommen. Finden Sie es richtig, wenn die Allgemeinheit das riskante Sexleben einiger weniger finanziert?

Man sollte die Situation unemotional analysieren. Wenn die Menschen mit Risikoverhalten PrEP-Medikamente nicht nehmen, stecken sie sich mit HIV an und kosten am Ende sehr viel mehr. Das rechtfertigt meiner Meinung nach, dass wir das über die Krankenkasse bezahlen. Denn nicht alle Menschen sind empfänglich für Appelle, sich mit Kondomen zu schützen. Trotzdem gilt natürlich weiterhin, dass man in sexuellen Risikosituationen Kondome verwenden sollte – auch wegen anderer sexuell übertragbarer Krankheiten, die in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Diese Botschaft bleibt weiterhin sehr wichtig.

Stimmt denn die Vorstellung, dass dann zum Beispiel Freier, die keine Lust haben, ein Kondom zu tragen, die Tabletten von der Krankenkasse bezahlt bekommen?

Die Abgabe von PrEP-Medikamenten findet innerhalb von Programmen statt. Um sie zu bekommen, muss man zu einem Arzt gehen oder sonst eine Verschreibung haben. Dabei werden die Leute auch über die Risiken informiert und auf HIV getestet. Das ist wiederum gut für die Gesamtbevölkerung, HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten im Griff zu behalten. Die PrEP wird nie etwas für Otto-Normal-Verbraucher sein. Es geht um die wenigen Menschen, die erhöhte Risiken eingehen. Wenn wir diese auf PrEP setzen können, dann verhindern wir wirklich viele Ansteckungen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO versucht ebenfalls, die Ansteckung stark zu senken, um 90 Prozent bis 2030. Trotzdem dürften in der Schweiz die meisten neuen HIV-Fälle künftig aus dem Ausland stammen.

Das könnte sich in Zukunft als richtig erweisen. Bisher ist das aber klar nicht der Fall. Auch hier muss man pragmatisch sein. Wir müssen die Leute, die in die Schweiz kommen, dazu bringen, sich zu testen, um sie dann auch raschmöglichst behandeln zu können. Das ist auch im nationalen Aktionsplan vorgesehen. Wie das konkret umgesetzt wird, muss sich zeigen. Bei unseren genetischen Virus-Analysen konnten wir nachweisen, dass sich in die Schweiz importierte HIV-Stämme glücklicherweise nicht stark verbreiten. Es gibt natürlich Infizierte aus dem Ausland, die starten aber praktisch keine Ansteckungsketten. Wir haben diesbezüglich sehr gute Daten.

Dann wird es bei der Einreise obligatorische HIV-Tests geben?

So wie ich die Schweiz kenne, wird es kein Obligatorium geben. Aber wir müssen unbedingt versuchen, die Menschen zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, sich testen zu lassen, einerseits für sich selber, damit man nicht irgendwann an Aids erkrankt, aber auch damit niemand anderes mit dem Virus infiziert wird.

Nach der Eindämmung der Ansteckung wäre der nächste Schritt die Ausrottung des HI-Virus.

Das ist zurzeit nicht realistisch. HIV ist ein latentes Virus, das heisst, es kann über längere Zeit in Zellen schlummern. Zudem es wird durch Sex, über Blutaustausch beispielsweise beim Drogenkonsum und von der Mutter aufs Kind übertragen. Solange sich die Menschheit vermehrt, wird sich ein solcher Erreger deshalb auch vermehren. Zudem wird man nie in der Lage sein, alle Menschen zu behandeln. Wenn Krieg herrscht, kommt es sofort wieder zu einem Aufflammen von HIV. In der Ukraine zum Beispiel versuchen sie das zwar mit grosser Anstrengung zu verhindern. Russland hingegen verdrängt das Problem hauptsächlich. Die Infektionsrate ist dort sehr hoch. Ohne Impfung werden wir HIV nicht zum Verschwinden bringen.

Halten Sie einen Impfstoff nach 40 Jahren immer noch für möglich?

Ich glaube nach wie vor, dass das geht, und wir arbeiten auch daran. Die Immunantwort, die nötig wäre, um potente HIV-Antikörper zu generieren, ist leider viel komplizierter als zum Beispiel beim Coronavirus Sars-CoV-2. Aber biologisch ist es grundsätzlich möglich.

Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie, die vor kurzem ihr 35-jähriges Bestehen feierte, spielt bei der Bekämpfung der HIV-Epidemie bis heute eine wichtige Rolle. Sie waren fast von Beginn weg dabei.

Als ich in den 1980er-Jahren studiert habe, war Aids ein riesiges Thema. Ich sah meinen ersten Aids-Patienten noch während des Studiums als Unterassistent am Kantonsspital in Winterthur. Und dann starb in meinem Bekanntenkreis noch jemand an der Erkrankung. Das hat mich dazu bewegt, mich früh damit zu beschäftigen. Mit der Arbeit in der HIV-Kohortenstudie lernte ich die dramatische Erkrankung immer besser kennen, und es hat mich regelrecht reingezogen. Ich habe früh realisiert, was für ein unglaublich hilfreiches Arbeitswerkzeug so eine Kohorte ist. Bei anderen Infektionskrankheiten haben wir bis heute nichts Vergleichbares.

Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie bedrohlich Aids war.

Die Erkrankung war unglaublich bedrohlich, da beinahe zu hundert Prozent tödlich, als noch keine Behandlungen vorhanden waren. Am Anfang wusste man nicht einmal sicher, dass ein Virus dahintersteckt. Man sah nur die jungen Menschen, die zum Beispiel an Lungenentzündung starben, wie man das noch nie gesehen hatte. Es brauchte zwei Jahre, bis man das HI-Virus entdeckte. Was wir bei Sars-CoV-2 im Zeitraffer hingekriegt haben, dauerte damals noch viele Jahre – das Charakterisieren des Erregers, die Diagnostik, die Übertragungswege, die Entwicklung von Therapien.

In der Kohorte sind heute 9500 HIV-Infizierte, die über Jahre regelmässig untersucht und behandelt werden. Welchen Beitrag konnte man damit leisten?

Da gibt es viel. Insgesamt haben wir mehr als 1400 Forschungsarbeiten veröffentlicht. In der Anfangsphase, als es noch keine Behandlung gab, waren wir vor allem mit Begleitinfektionen und Krebserkrankungen beschäftigt, die bei den immungeschwächten Aids-Patienten auftraten. Diese konnten wir mit der Zeit teilweise deutlich besser behandeln. Als dann ab Mitte der 1990er-Jahre die antiretrovirale Kombinationstherapie aufkam, ging es vor allem um die Therapieoptimierung und um die anfangs starken Nebenwirkungen.

Mit den HIV-Medikamenten kamen auch die Resistenzen.

Wir haben festgestellt, dass die Therapien mit der Zeit bei recht vielen Menschen nicht mehr wirkten und es zu Resistenzbildung kam. Mithilfe der HIV-Kohorte konnten wir die Resistenzen durch konsequente Therapien wieder zum Verschwinden bringen und insbesondere die Übertragung resistenter Viren praktisch stoppen. Ein anderes Thema sind die Co-Infektionen. Wir haben als weltweit Erste die Hepatitis-C-Epidemie bei schwulen Männern entdeckt und konnten diese später dann auch eliminieren. Ohne Kohorte hätten wir das nie geschafft, was auch der Gesellschaft sehr viel Geld gespart hat. Auch bei der Präexpositionsprophylaxe war die HIV-Kohorte wichtig. Wir haben die Schweizer Studie dazu aufgesetzt und die Anschubfinanzierung übernommen.

Andere Länder haben auch HIV-Kohorten. Wie ist die Stellung der Schweiz?

Das Einmalige an der Schweizer Kohorte ist die umfangreiche Biobank mit über zwei Millionen Proben von HIV-Infizierten. Das hat sonst niemand. Andere Länder haben dafür grössere Kohorten als wir. Doch die Biobank ist teuer – und das macht uns Kopfzerbrechen. Es funktioniert nur, weil die beteiligten Universitäten und Spitäler das querfinanzieren.

Sind die hohen Kosten und der Aufwand auch der Grund, wieso es bei anderen Krankheiten kaum Kohorten gibt?

So ist es. Während der Pandemie hätte ich auch gerne eine Long-Covid-Kohorte gestartet, wenn ich genügend Kapazität und Energie gehabt hätte. Das wurde auch von verschiedener Seite gefordert. Aber ich konnte das nicht auch noch machen. Das hätte jemand anderes übernehmen müssen. Wenn wir eine solche Kohorte hätten, wären wir bei Long Covid heute an einem ganz anderen Punkt.

Inwiefern?

Long-Covid-Betroffene wären systematisch erfasst nach genau definierten Kriterien und objektivierbaren Parametern aus Leistungs-, neurologischen, biologischen und anderen Tests. Und man hätte eine Biobank mit Proben der Patienten. Dadurch liessen sich Muster oder Unterkategorien bei der Erkrankung identifizieren und man könnte auch Therapie- und Verlaufsstudien machen.

Die HIV-Kohorte ist jetzt eigentlich auch gefährdet. Würden Ihnen die Infizierten ausgehen, wenn es gelänge, die Ansteckungen auf null zu drücken?

Das kann schon sein. Das wäre dann aber wirklich ein absoluter Riesenerfolg. Noch ist es nicht so weit. Der Bund hat die Schweizerische HIV-Kohorte als Dateninfrastruktur von nationaler Bedeutung erkannt, was zeigt, dass die HIV Infektion weiterhin auch langfristig bekämpft werden muss. Wir müssen schon aufpassen, dass wir nicht denken, dass HIV vorbei ist. Das Virus bleibt. Wir müssen ja auch noch die bereits Infizierten weiter gut betreuen und weiterhin intensiv Grundlagenforschung betreiben für eine Impfung und für eine Eradikationstherapie. Das ist am Ende die beste Versicherung dafür, dass die Infektion unter Kontrolle bleibt.