7 Lektüretipps Afghanistan verstehen – Das müssen Sie lesen
Vom neuen Roman über den Bildband bis zur «Urquelle»: Wir präsentieren die wichtigsten Bücher für alle, die das Land über die aktuelle Krise hinaus verstehen wollen.
1. Afghanistan-Erklärer wider Willen
Natürlich erzielen diese Bilder starke Wirkung. Männer in Uniform halten schützend Babys in ihren Armen. Es passiert in diesen Tagen wohl mehrfach am Flughafen Kabul: Verzweifelte Eltern übergeben ihre Kinder an ausländische Soldaten. Letzte Hoffnung USA – Fotos wie diese, unter anderem von der amerikanischen Armee verbreitet, bilden ein letztes Mal das Narrativ ab, mit dem Washington und letztlich auch Berlin den Einsatz am Hindukusch begründeten: Die westlichen Truppen schützen die Zivilbevölkerung vor Terroristen, ihr aufopferungsvolles Tun bereitet den Grund, auf dem Menschenrechte, Demokratie und Frauenbefreiung gedeihen sollen.
Wer hier die akute Gefahr der Verkleisterung von Tatsachen durch propagandistischen Süssstoff fürchtet, findet in «Der längste Krieg» frisch angerührtes Gegengift. Der österreichische Autor Emran Feroz schreibt gegen die Verklärung an, mit der westliche Gesellschaften die Kriege betrachten, die sie nach dem 11. September 2001 begonnen haben.
Was als bittere Bilanz zu «20 Jahren War on Terror» geplant war, hat durch die Wiedereroberung von Kabul durch die Taliban eine noch dringlichere Aktualität bekommen. Die Geschehnisse in Afghanistan haben Feroz’ Analysen zwar in guten Teilen bereits überholt. Antworten auf die Frage: «Wie konnte dieser Staat so schnell kollabieren?», die sich Politiker und Analysten, Geheimdienstler und Journalisten derzeit mit einiger Überraschung stellen, geben sie dennoch.
Mit dem 11. September 2001, so schreibt es der Autor im Vorwort, wurde er wider Willen zum Afghanistan-Erklärer. «Emran, ihr seid doch aus Afghanistan», habe die Grundschullehrerin ihn vor versammelter Klasse gefragt. «Weisst du, warum die das gemacht haben?» Heute erklärt der 1991 geborene Feroz das Land beruflich, als Journalist und Autor, seit bald zwei Wochen auch häufig zugeschaltet als Interviewpartner im Radio oder bei News-Sendern wie CNN.
Um schildern zu können, was andere nicht sahen oder nicht sehen wollten, musste Feroz keine Geheimdokumente auswerten und keine Whistleblower zum Reden bringen. Er reiste mehrfach für Recherchen durch das Land und beschäftigte sich konsequent mit vor allem zwei Themen, die in der Debatte zu Afghanistan immer wieder thematisiert wurden, ohne dass das letztlich zu einer ehrlichen Sicht auf die Lage im Land und das eigene Engagement dort geführt hätte: Zum einen arbeitet Feroz die immense Korruption der Eliten in Kabul und ihre Verstrickung in Kriegsverbrechen auf, die der Westen teils ignorierte, teils beförderte.Zum anderen schildert er das immense Leid, das der vermeintliche Krieg gegen den Terror bei jenen Menschen erzeugte, die er doch vorgeblich befreien sollte: Durch willkürliche Drohnenangriffe und nächtliche Razzien, durch systematische Folter und verbrecherische Übergriffe und Morde seitens Soldaten aus dem Westen und der von ihm aufgebauten lokalen Antiterroreinheiten. Wer hier vor allem an den Kreuzzügler George W. Bush, den Drohnenkrieger Barack Obama und die Machenschaften der CIA denkt, den erinnert Feroz an Kundus: Nach manchen Angaben bis zu 150 Menschen starben, als auf Anforderung der Bundeswehr 2009 zwei gestohlene Tanklaster bombardiert wurden. Die zivilen Opfer wurden nie entschädigt, der befehlende Oberst später zum General befördert.
Feroz’ Buch ist kein nüchternes Gutachten, sondern eine Anklage, die mancher teils als zu scharf und ihrerseits einseitig empfinden wird. Stören werden sich einige Leser – vor allem in Ministerien und Medienhäusern – auch an Feroz’ Furor etwa in Bezug auf die orientalistischen Sichtweisen, die er in der Afghanistanpolitik und der Berichterstattung über das Land wahrnimmt.
Dass Feroz’ Standpunkte aber über den 31. August Relevanz haben werden, wenn der Westen seine Soldaten aus dem Land abgezogen haben wird, zeigt paradoxerweise die Aktualität, die «Der längste Krieg» in Teilen überholt hat. «In Afghanen wie Saleh fanden die Amerikaner das geeignete Personal für die Drecksarbeit», schreibt Feroz etwa über den bisherigen Vizepräsidenten, der zuvor ein mindestens skrupelloser Geheimdienstchef war. Nun organisiert er im Panjshir-Tal den bewaffneten Widerstand gegen die Taliban und wird als Held gefeiert. Wieder mal, das darf man getrost annehmen, wird der Westen nun offen oder verdeckt einen Mann unterstützen, den nicht wenige als Kriegsverbrecher ansehen und der schon deshalb kein friedliches Afghanistan wird aufbauen können. Der Einsatz der westlichen Soldaten im Land mag bald vorbei sein. Der «War on Terror» ist es nicht. (mob)
Emran Feroz: «Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror». Westend Verlag, Frankfurt 2021. 224 S., ca. 29 Fr.
2. Der verfilmte Bestseller
Auf einmal ist das alles wieder wichtig. Ethnische Zugehörigkeiten, etwa Hazara oder Nicht-Hazara. Bartlänge. Pick-ups. Sonnenbrillen. Dabei ist Afghanistan nicht nur dieses Land, das Land der Taliban, sondern auch die Zeit davor und danach, die Granatapfelbäume, das Rosenwasser-Eis, die Dächer des Wazir-Akbar-Khan-Viertels in Kabul. Und dass die Welt den Reichtum dieses zweiten Afghanistan kennen gelernt hat, ist das grosse Verdienst Khaled Hosseinis. Sein Roman «Drachenläufer» ist die Coming-of-Age-Geschichte des 12-jährigen Amir und seines Hazara-Freundes Hassan, ein Epos von Freundschaft, Verrat und Versöhnung über die Generationen hinweg.
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«Drachenläufer» erschien 2003, wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Gerade erst war das Land von den Taliban befreit worden, aber was wusste die Welt schon über Afghanistan? Was weiss sie heute? Mag sein, dass die Figuren höchstens mittelfein gezeichnet sind, die Dialoge bessere Kalendersprüche und manche Szene outright Kitsch. Die Vorurteile über Afghanistan sind jedoch auch nicht subtiler. (zri)
3. Ein berührender Horrortrip
«Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen» ist ein zutiefst berührendes Buch. Gleichzeitig ein Horrortrip durch Jahrzehnte des Krieges. Siba Shakib, deutsch-iranische Autorin und Regisseurin, beschreibt Afghanistans Tragödie am Beispiel einer Frau, Shirin-Gol, von deren Kindheit vor der Sowjet- Invasion 1979 bis zum Sturz der Taliban 2001. Shirin-Gol hat keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben, wird zum Symbol für das Schicksal ihres Landes und vor allem seiner Frauen, denen die Autorin 2002 eine Stimme gab. Ihr Buch wurde weltweit zum Bestseller.
Siba Shakib hat die westliche Intervention zunächst begrüsst, Nato und Bundeswehr in Fragen Land und Menschen beraten. Hätten sie doch besser zugehört! Das Buch liest sich heute wie ein Menetekel, was den Afghanen wohl erneut bevorsteht: «Ich sehe zu, wie Menschen aus einer Heimat kommen, die nie eine gewesen ist, und in eine Heimat zurückkehren, die nie eine werden wird. Frauen, Kinder, Männer, die nichts kennen, als immerzu auf der Flucht zu sein.» (jkä)
Siba Shakib: «Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen». Random House eBook 2001, 320 S., ca. 11 Fr.
4. Verblüffende Taliban-Porträts
Als die Taliban im 2001 aus Kandahar flohen, hinterliessen sie einen Schatz, der mehr über sie verriet, als ihnen wohl bewusst war. In den Fotostudios der Stadt, die sie erst geschlossen – Bilderverbot! –, dann wieder geöffnet hatten – Ausweise! –, hatten einige von ihnen Porträts machen lassen und nie abgeholt. Aus den Aufnahmen hat der deutsche Fotograf Thomas Dworzak den verblüffenden Bildband «Taliban» kompiliert.
Dass die Kämpfer mit Kalaschnikows posierten, war zu erwarten. Aber mit Blumenschalen? Notizblock und Bleistift? Einige liessen Schwarzweissaufnahmen kolorieren, was Vintage-Effekte wie bei Stummfilm-Stills ergab. Andere gruppierten sich vor dem Hintergrund reetgedeckter Dächer. Viele schwärzten sich mit Kajal die Augen, zauberten sich mit Make-up zarte Röte ins Gesicht. Schmiegten die Schultern aneinander, hielten Händchen. Es sind träumerische Aufnahmen voller Sinnlichkeit und Männererotik. Aber es liegt auch Sehnsucht über diesen Bildern und, wenn man so will, Vergeblichkeit. Deren Ursachen und Folgen wiederum waren: die Taliban selbst. (zri)
Thomas Dworzak: «Taliban». Fotobuch-Edition, Freiburg 2003, 128 S., ca. 27 Fr.
5. Die Urquelle zu Afghanistan
Ahmed Rashid hat seine eigene Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Nach seiner Zeit an der Cambridge University zog es ihn Ende der 60er-Jahre in die Hügel Baluchistans, wo er zehn Jahre lang bekämpfte, was er als Unheil für seine Heimat ansah. Es waren Lehrjahre, die Rashid teuer bezahlte. Sein Widerstand gegen Pakistans Militärdiktatur zahlte sich nicht aus. So verlagerte er sich auf ein anderes Geschäft: das Schreiben.
Ahmed Rashid war der unbestritten beste Kenner Afghanistans und Pakistans, ehe nach dem 11. September 2001 Hunderte neue Experten auftauchten. Rashid darf für sich in Anspruch nehmen, Lehrmeister all jener Taliban-, Afghanistan- und Paschtunen-Deuter zu sein – die Urquelle, sozusagen. Seine Bücher «Taliban» und «Sturz ins Chaos» sind Referenzwerke mit anhaltender Gültigkeit. Rashid selbst wurde zum gefragten Gesprächspartner in Regierungszentralen, Universitätsforen und Geheimdienstzirkeln. Die «New York Times» schrieb einmal, Rashid habe sich über all die Jahre als «Prophet dieser Region erwiesen, allerdings mehr vom Typ Kassandras». (eli)
Ahmed Rashid: «Sturz ins Chaos». Leske, Düsseldorf 2010, 340 S., ca. 21 Fr.
6. Eine Reportage, die unter die Haut geht
«Der Gatigal-Gebirgsausläufer ist in Mondlicht getaucht, und in den silbrigen Schatten der Stechpalmen sieht er feindliche Kämpfer, die Josh Brennan den Berghang hinunterschleifen. Er leert sein M4-Magazin auf sie und läuft los zu seinem Freund.» Die lakonische und doch unter die Haut gehende Reportage des US-Autors Sebastian Junger: «War. Ein Jahr im Krieg» beschreibt Leben, Kampf und Sterben von US-Soldaten im Korengal-Tal, einem entlegenen Aussenposten der US-Armee in Afghanistan.
Junger hat 2007 Monate dort verbracht, näher konnte ein Journalist dem Krieg nicht kommen. Es ist ein Mikrokosmos des Wahnsinns und extremer Gewalt, in dem sich bereits die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. Der Soldat Brennan stirbt. Bald darauf gibt die US-Armee das Korengal-Tal auf. (jkä)
Sebastian Junger: «War. Ein Jahr im Krieg». Pantheon, München 2012, 336 S., antiquarisch.
7. Reiseprotokolle der Nobelpreisträgerin
«Zinkjungen» hiessen die Gefallenen im Afghanistankrieg, den die Sowjetunion in den Achtzigern aus heute fast vergessenen Gründen geführte hatte. Zink, weil die verschweissten Särge der sowjetischen Armee damals aus dem Metall bestanden und Jungen, weil die Soldaten oft gerade 18 Jahre alt waren.
Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat nach dem Krieg mit Dutzenden Zeitzeugen gesprochen – Feldwebeln, Krankenschwestern, Pioniere, Mütter – und ist 1986 als Journalistin nach Afghanistan gereist. Die Protokolle und ihre eigenen Erfahrungen hat sie zu kurzen, persönlichen Berichten verdichtet. Die Fakten stimmen, ihre Zusammenstellung ist neu. Liest man Alexijewitsch heute, sind es vor allem die Details, die wie aus dem Jetzt wirken: Eine Frau träumt von Flügen mit Militärmaschinen zwischen Taschkent und Kabul, Soldaten zweifeln am Sinn ihres Einsatzes, Kinder, die der Krieg versehrt hat, stehen in der Wüste am Strassenrand. Es geht nicht um akkurate Geschichtsschreibung, sondern um eine Ideengeschichte der Emotionen und Erlebnisse.
Swetlanana Alexijewitsch: «Zinkjungen». Suhrkamp, Berlin 2016, 317 S., ca. 12 Fr.
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