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Prägende Abstimmungen
Weniger Schnaps, weniger Ferien, mehr Gülle

Frauenstimmrecht 1971
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In Kürze:
  • Die Schweiz stimmt über zahlreiche Themen von Autobahnen bis Gesundheitskosten ab.
  • Historische Abstimmungen wie das Frauenstimmrecht 1971 veränderten die Schweiz nachhaltig.
  • Besondere Abstimmungen betrafen auch ungewöhnliche Themen wie Schnapsverbote oder Sommerzeiten.

Am Sonntag ist es wieder so weit: Die Schweiz stimmt ab! Zum letzten Mal in diesem Jahr wird das Stimmvolk zur Urne gerufen. Es geht um die Vorlagen Nummer 673 bis 676 seit der Gründung des modernen Bundesstaats. Fast 700-mal Abstimmungskampf, mal kaum spürbar oder geprägt von technischen Details, mal intensiv und so emotional, dass sich Familien darob fast entzweien.

All die Abstimmungen haben die Schweiz zu dem Land gemacht, das es heute ist. Abstimmen ist Teil der Schweizer Identität, es ist identitätsstiftend. Abstimmen wirkt. Es regt an. Es regt auch manchmal auf (vor allem, wenn man verliert). 

Veränderung gebracht haben die grossen, bekannten Abstimmungen: zum Beispiel die Gründung der staatlichen Altersvorsorge AHV 1925 und 1947, die sehr späte Einführung des Frauenstimmrechts 1971 oder der verworfene Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992. Die Schweiz sähe heute anders aus, ohne diese Volksentscheide.

Aber auch manche andere, weniger berühmte Volksabstimmungen sind für die Schweiz bis heute wichtig. Die Abstimmungen zur Einführung einer Gurtentragpflicht auf Autovordersitzen von 1980 etwa, zum Schutz des Hochmoors in Rothenthurm 1987 oder zur nationalen Schuldenbremse 2001.

Diese Abstimmungen erzählen Geschichten. Manche sind gross und schwer, manche sind klein und heiter. Es sind Geschichten, die unser Land geprägt haben und es immer noch prägen.

Zur Feier des Abstimmungssonntags: eine Auswahl.

Die renitenten Westschweizer 

«Nein zur Gurtentragpflicht – Wachsamkeit». Das Plakat des Westschweizer Grafikers Pierre-André Jacot warnt vor dem übergriffigen Staat.

Im März 1976 parkierte der Walliser Weinbauer Jean-Pierre Favre unangegurtet in seinem Auto neben einem Polizisten in Sitten und wollte gebüsst werden. Aus Absicht! Zwei Monate zuvor hatte der Bund im Sinne der Verkehrssicherheit und gleichzeitig mit der Bundesrepublik Deutschland ein Gurtenobligatorium auf Vordersitzen von Autos eingeführt. Unerhört! Der Gurt «engt mich ein», sagte ein Schweizer Autofahrer schon vor der Einführung in einem Beitrag von Radio SRF. Er habe «keine Zeit dafür, muss immer ein- und aussteigen», sagte ein anderer. Ein Dritter fand, er schnalle sich aus Prinzip nicht an. «Ich bin ein Welscher und habe gern meine Freiheit.»

Und genau darum wollte der Weinbauer gebüsst werden. Mit seiner Busse (20 Franken) zog er bis vor Bundesgericht. Der Walliser gewann, das Gericht urteilte, dass der Verordnung des Bundes die Rechtsgrundlage fehlte - und hob das Obligatorium wieder auf. Sofort stieg die Zahl der Verkehrstoten wieder an. Der Bund ging über die Bücher, führte die Tragepflicht über das Strassenverkehrsgesetz ein zweites Mal ein – und dieses Mal gab es eine Abstimmung, weil Westschweizer Automobilisten das Referendum ergriffen. Die Gurtengegner kritisierten den «unzulässigen Eingriff in die persönliche Freiheit», der Bund argumentierte mit den Verkehrstoten und gewann knapp: 51,6 Prozent der Stimmbevölkerung sagten Ja zur Tragepflicht. Seither muss angeschnallt werden, und seither ging die Zahl der Verkehrstoten massiv zurück. Man gewöhnte sich schnell daran. Die Einführung der Tragepflicht auf den Rücksitzen, 14 Jahre später, wurde überhaupt nicht mehr kontrovers diskutiert. 

Schnaps!

Es gibt nicht viele Länder, in denen über Schnaps abgestimmt wird (es gibt nicht so viele Länder, in denen überhaupt regelmässig abgestimmt wird). In der Schweiz hat das Stimmvolk 1887 ein Bundesgesetz betreffend gebrannte Wasser gutgeheissen; es gilt als der Ursprung des Alkoholmonopols des Bundes. 1908 beschloss das Volk zusätzlich zur Regulierung von Kartoffel- und Getreideschnaps ein Verbot des Absinths. Zuvor hatte ein Verbrechen in Commugny VD für Aufsehen gesorgt. Ein junger Weinbergarbeiter hatte im Rausch Frau und Kinder erschossen. Daraufhin forderte die erstarkende Abstinenzlerbewegung ein Verbot der Grünen Fee, des Absinths. Das Verbot wurde deutlich angenommen (gegen den Willen des Bundesrats und der Alkoholverwaltung) und erst hundert Jahre später wieder aufgehoben (Bundesrat und Alkoholverwaltung brauchten die Steuereinnahmen). Die Schweiz: Das einzige Land der Welt, in dem ein Jahrhundert lang eine einzige Schnapssorte in der Verfassung verboten war. 

Die streikenden Frauen 

Frauenstimmrecht 1971

Der Brief war freundlich verfasst: «Sehr geehrter Herr Rektor, ich teile Ihnen mit, dass die Lehrerinnen des Mädchengymnasiums am Dienstag, den 3. Februar 1959, aus Protest gegen die neuerlich dokumentierte Missachtung unseres staatsbürgerlichen Rechtsanspruchs streiken werden.» 

Am Sonntag, den 1. Februar 1959, hatten die Schweizer Männer zum ersten Mal auf nationaler Ebene über die Einführung eines Frauenstimmrechts abgestimmt und dieses mit nur 33,1 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt. Darum streikten die Basler Lehrerinnen. Nur einen Tag zwar – aber die Politik beschäftigte das unerhörte Vorgehen noch lange. Der Regierungsrat verurteilte die Aktion «aufs Schärfste». Bis der Rechtsanspruch der Frauen erhört wurde (national), dauerte es noch einmal zwölf Jahre. Fast ein Jahrhundert lang hatten die Frauen um ihr Stimmrecht kämpfen müssen, bis es ihnen von den Männern am 7. Februar 1971 gewährt wurde.

Die Zeitinsel

Europa führte 1977 die Sommerzeit ein. Ganz Europa? Nein! Im Zürcher Oberland ergriffen junge Bauern das Referendum dagegen – sie wollten nicht, dass sich ihre Kühe an neue Melkzeiten gewöhnen mussten. Und siehe da: Sie gewannen an der Urne und machten aus der Schweiz eine Zeitinsel. Mit anderen Zugfahrplänen als in den Nachbarländern, anderen TV-Programmen (wie ärgerlich!) und mit grössten Schwierigkeiten für Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Der Bundesrat intervenierte, setzte sich über den Volkswillen hinweg und führte im Sommer 1981 die Sommerzeit trotzdem ein. Deren Abschaffung blieb ein politisches Thema in der Schweiz, aber abgestimmt wurde nicht mehr darüber. Zum vorerst letzten Mal scheiterte eine Volksinitiative zur Abschaffung der Zeitumstellung vor vier Jahren schon im Sammelstadium. 

Die gute Flasche von Joseph Deiss

Uno-Beitritt 2002

Manchmal sind auch Bundesräte nervös. Weil sie nicht gern verlieren. Oder weil ihnen etwas wirklich wichtig ist. Joseph Deiss, ein Bundesrat der ehemaligen CVP, war am 3. März 2002 nervös. Deiss hatte sich stark für den Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen, der UNO, eingesetzt. Gemeinsam mit dem damaligen Verteidigungsminister Samuel Schmid (SVP) tingelte Deiss durch die Turnhallen von Biberist bis Lützelflüh. 1986 war die gleiche Abstimmung schon einmal krachend gescheitert – im Kalten Krieg war die Position des Landes klar und deutlich: ausserhalb von allem. 

Galt das auch 2002 noch? Bis zuletzt drohte die Vorlage am Ständemehr zu scheitern. Am Abstimmungssonntag meldete der Aargau ein Nein zur UNO, und Deiss begann, den Redetext für den Fall der Niederlage zu studieren. Doch dann meldete Luzern, ein Wackelkandidat, ein knappes Ja, und plötzlich sah es gut aus für Deiss. 

An diesem Abstimmungssonntag öffnete Deiss eine gute Flasche, erzählte er später. Acht Jahre später gab es wahrscheinlich eine zweite – 2010 wählte die UNO-Generalversammlung Alt-Bundesrat Joseph Deiss zu ihrem Präsidenten für ein Jahr. Eine Premiere. 

Gessler in Rothenthurm

Wie ruppig die Schweizer Demokratie zuweilen sein kann, zeigte die Abstimmung über einen Waffenplatz auf dem Hochmoor von Rothenthurm auf dem Gebiet der Kantone Schwyz und Zug. Die Gegner zündeten unter anderem eine Militärbaracke an (das Gebäude stand leer) und wurden immer dann so richtig garstig, wenn sich Vertreter der Obrigkeit nach Rothenthurm wagten. Einmal spiessten die Bewohner einen Gesslerhut auf eine Stange, ein anderes Mal wurde dem Schwyzer Militärdirektor Gülle vor die Füsse geleert (und sein Auto von Traktoren zugeparkt). Moderner Politaktivismus made in der Innerschweiz. Und moderner Politaktivismus mit Wirkung. Der Waffenplatz wurde deutlich abgelehnt und das Moor unter Schutz gestellt – der Umweltschutz hatte in der Schweiz einen ersten wichtigen Sieg erreicht (dank einem Brandanschlag und einem vollen Güllefass). 

Keine Ferien

Bei dieser Volksabstimmung war erfreulich klar, worum es ging: um sechs Wochen Ferien für alle Erwerbstätigen. Die Forderung kam im Jahr 2012 von Travailsuisse und weiteren Gewerkschaften. Die im Schweizer Recht vorgesehenen vier Wochen Erholungszeit seien zu wenig. Die immer produktivere Arbeitnehmerschaft müsse entlastet werden. Das Stimmvolk aber sah das anders. Alle Stände und 66,5 Prozent der Stimmenden lehnten die Vorlage ab. Im Ausland rieb man sich die Augen. Die Abstimmung wird seither gern genannt, wenn es um Vernunft und Selbstkontrolle des Stimmvolks geht: Wer sich selbst mehr bezahlte Ferien verweigert, dem kann ruhig jede Entscheidung zugetraut werden. 

Die Hornkuh kommt nicht in die Verfassung

Es sind Bergbauern um Armin Capaul, die die Hornkuhinitiative lancierten. Sie forderten eine Direktzahlung vom Bund für Kühe und Geissen, denen ihre stolzen Hörner belassen werden. Konkret: einen Franken pro Stück Vieh und Tag. Behornte Tiere seien natürlich und ein Kulturgut, aber eben aufwendiger in Haltung und Pflege, argumentierten sie. Der Bundesrat war dagegen, das Stutzen oder Belassen von Hörnern sei ein unternehmerischer Entscheid der Bauern, in den die Politik nicht einzugreifen habe. Tierschützer und Naturfreunde unterstützten das Begehren. Immerhin 45,3 Prozent der Stimmenden legten im November 2018 ein Ja ein.

David Hesse, Philipp Loser: Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben. Gebunden, 248 Seiten, 84 Abbildungen und Karten. Limmat-Verlag. Ca. 38 Fr.