Zürcher Brauch neu interpretiertWas ein geiler Mönch und eine Nonne mit der offenen Rennbahn zu tun haben
Am 2. Januar publizieren verschiedene Gesellschaften jeweils ihr Neujahrsblatt. Für eines braucht es dieses Jahr Leim und Schere.
Nach uraltem Brauch bieten jeweils rund ein Dutzend Zürcher Gesellschaften am 2. Januar, dem Berchtoldstag, Neujahrsblätter an. Eine Auswahl.
Wir basteln eine Velorennbahn
Gleich zwei Neujahrsblätter widmen sich Sportbauten aus Oerlikon. «Reiner Zufall», sagt Andreas Teuscher von der Kantonsarchäologie. Denn am Anfang stand nicht das Sujet, sondern die Idee, statt eines normalen Neujahrsblattes am Berchtoldstag einen Bastelbogen herauszugeben.
Dass die Wahl der Stiftung für Archäologie und Kulturgeschichte Kanton Zürich (Starch) dabei auf die Sportstätte in Oerlikon fiel, hatte mit dem Europäischen Tag des Denkmals 2020 zu tun. Damals stand im Kanton Zürich die offene Rennbahn im Mittelpunkt.
Starch musste allerdings erfahren, dass Basteln kein Kinderspiel ist. So war der Prototyp des in Zusammenarbeit mit der ZHDK (Zürcher Hochschule der Künste) erstellten Bogens für Laien so anspruchsvoll, dass er überarbeitet werden musste.
Andreas Teuscher sagt: «Modellbogenmässig war das eine echte Knacknuss», an der sich zwei Profis beinahe die Zähne ausgebissen hätten. Doch er verspricht: «Das Modell, das wir jetzt haben, funktioniert.»
Der Bastelbogen der offenen Rennbahn ist am 2. Januar ab 10 Uhr in der Zentralbibliothek erhältlich und kostet fünf Franken.
Identität stiftende Oerliker Sportbauten
Auch der Stadtzürcher Heimatschutz (SZH) widmet sein reich illustriertes Neujahrsblatt 2024 den Sportbauten in Oerlikon. Der Entscheidungsprozess lief hier allerdings ganz anders, wie Präsidentin Evelyne Noth erzählt. Weniger intuitiv, mehr politisch.
Anlass für die Wahl war, dass der Zürcher Stadtrat im Oktober das Projekt Sportzentrum Oerlikon vorstellte. Dieses sieht vor, dass in rund acht Jahren das Hallenbad Oerlikon sowie die benachbarte Eisbahn und die Rasensportanlage durch ein neues Sportzentrum ersetzt werden.
Damit, sagt Evelyne Noth, würden «zwei für die Identität von Oerlikon massgebliche und architektonisch bedeutsame Sportstätten abgebrochen». Es sei denn, die Bevölkerung lehnt den Kredit von gegen 400 Millionen ab. Die Abstimmung findet voraussichtlich 2026 statt.
Der SZH setzt also den Sportbauten in Oerlikon vorsorglich schon einmal ein Denkmal in Form eines Neujahrsblattes. Das Neujahrsblatt des Stadtzürcher Heimatschutzes kann zwischen 10 und 12 Uhr im Zunfthaus zur Waag am Münsterhof (1. Stock) für 25 Franken bezogen werden.
Ein Zunfthaus und ein «geiler Mönch»
Bleiben wir bei der Zunft zur Waag: Im Zunfthaus zur Waag liegt am Berchtoldstag ab 10 Uhr das Neujahrsblatt der Zunft zur Waag auf. Thema: Zunfthaus zur Waag, Verfasser: Philippe Oswald Welti, Preis: 25 Franken.
Das heutige prachtvolle Haus wurde 1636/37 anstelle des zu klein gewordenen alten Zunfthauses erstellt. Damit dieses erweitert werden konnte, hatte die Zunft 1630 ein Nachbarhaus mit dem eigenwilligen Namen «Zum geilen Mönch» gekauft.
Die Mutter Leuin
Nicht ein Mönch, sondern eine Nonne steht im Mittelpunkt des Neujahrsblattes der Gesellschaft zu Fraumünster. Es ist – wie üblich – einer Frau gewidmet, die sich um die Stadt Zürich verdient gemacht hatte und trotzdem beinahe in Vergessenheit geraten ist.
Die Theologin Ariane Albisser schreibt über das Leben der «Mutter Leuin», wie Katharina Gmünder Jud (1493 bis 1583) im Volksmund genannt wurde. Sie war, wohl knapp zwanzig Jahre alt, in die Schwesterngemeinschaft Alpegg im Finsteren Wald bei Einsiedeln eingetreten.
Dort kam sie mit dem Gedankengut der Reformation in Berührung, trat aus dem Kloster aus und heiratete den Pfarrer Leo Jud, den ersten reformierten Pfarrer am St. Peter. Damit wurde die «Leuin» zur ersten Pfarrfrau am St. Peter, da die katholischen Priester zuvor ja nicht hatten heiraten dürfen.
Die erste gewählte Pfarrerin am St. Peter, Cornelia Camichel Bromeis, schreibt im Neujahrsblatt der Gesellschaft zu Fraumünster über das Leben im reformierten Pfarrhaus – damals und heute.
Und zur Illustration der Bedeutung der Reformation für die Bildung der Frauen dient überdies der Dialog «Der Abt und die gebildete Frau», den Erasmus von Rotterdam verfasste. In ihm will ein Abt seiner Gesprächspartnerin den Umgang mit gelehrten Büchern madig machen.
Ein Ausschnitt: «Er: Der Verkehr mit den Büchern macht stumpfsinnig – Sie: Und die Unterhaltung der Zechgenossen, der Possenreisser und Hansnarren sollen nicht stumpfsinnig machen? – Er: Oh nein, die vertreiben die Langeweile.»
Das Neujahrsblatt der Gesellschaft zu Fraumünster liegt am 2. Januar zwischen 10 und 12 Uhr in der Wasserkirche auf.
Sittsame Zürcher Jugend
Seit 1645 werden in der Stadt Zürich am «Bächtelistag» Neujahrsblätter ausgegeben. Der Brauch geht auf die mittelalterliche «Stubenhitzete» zurück. Damals wurden die Kinder auf die «Stuben» der Gesellschaften und Zünfte geschickt, um ihnen Geld für das Heizen zu überreichen.
Dafür erhielten sie ein Getränk oder Süssigkeiten – oder eben ab Mitte des 17. Jahrhunderts ein Neujahrsblatt. Meist mit belehrendem Inhalt, wie etwa dasjenige der Chorherren-Stube aus dem Jahr 1779, das sich an die «sittsame und lernensbegierige Zürcherische Jugend» wendet.
Der Berchtoldstag ist kein eidgenössischer Ruhetag, wird aber in verschiedenen Kantonen, darunter Zürich, Bern, Schaffhausen und teilweise auch der Aargau, als Feiertag eingestuft. Auch die SBB fahren nach dem Feiertagsfahrplan.
Ein Heiliger, den es nicht gibt
Wie es zu dem Namen kam, ist allerdings unklar: Berchtoldstag, Bächtelistag, Bärzelistag, Bechtelstag… Einen heiligen Berchtold gibt es nämlich nicht. Auffällig ist, dass dieser Tag vor allem in reformiert geprägten Gegenden mit verschiedene Bräuchen verbunden ist.
Dies führt zu der These, dass es sich dabei um einen Ausgleich für den freien Dreikönigstag (6. Januar) der Katholiken handelt. Dieser Feiertag fiel nämlich nach der Reformation weg. Und tatsächlich hiess der Dreikönigstag mittelhochdeutsch «berchttac» oder «berchteltac». Das Wort «bercht» bedeutete glänzend.
Herausgabe der Neujahrsblätter 2024 u. a. in der Zentralbibliothek am 2. Januar von 10 bis 12 Uhr.
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