Reportage aus der Mega-Badi13’000 Menschen – und alle bleiben easy
Europas grösster Pool liegt in Berns Westen. Im Weyermannshaus treffen sich alle Gesellschaftsschichten, alle Kulturen. Wie friedliches Zusammenleben geht.
Alarm beim Sprungturm. Ein muskulöser Mann versucht, die drei Meter zu erklimmen. Jetzt. Unbedingt. Nur: Er ist zu besoffen. Bademeister Martin Sommer marschiert herbei und versucht ihn davon zu überzeugen, dass ein Sprung ins Wasser in seinem aktuellen Zustand keine gute Idee ist. Man einigt sich schliesslich auf einen Sprung von der Treppe aus. «Man muss hier pragmatisch vorgehen», sagt Sommer.
Kaum weiss Bademeister Sommer, dass der Betrunkene nicht untergehen wird, ist er wieder gefragt. Alarm beim Kinderhügel. Bienenstich mit Reaktion.
Es ist ein Sonntagmorgen im Juli, 10 Uhr. Luft: 24 Grad. Wasser: 23 Grad. Sommer schwitzt. Und der grosse Ansturm aufs Freibad Weyermannshaus hat noch nicht einmal begonnen.
Einen Tag später. Ein Montag. Martin Sommer sitzt mit seinem Chef Hanspeter Heiniger auf der Restaurant-Terrasse und hat etwas Zeit. Der gestrige Sonntag? «Heavy!», sagen beide. «Nach einem solchen Tag ist man am Feierabend fix und fertig», erklärt Heiniger. Der 62-Jährige arbeitet schon ein halbes Leben lang in der Badi.
Er sagt: «Was gerade abläuft, ist schon krass.»
Am Sonntag besuchten mehr als 10’000 Menschen über den ganzen Tag verteilt das Bad. Und an einem Junisonntag, mitten während der ersten Hitzeperiode, waren es gar 13’000 – Allzeitrekord im Weyermannshaus.
Der Andrang hat viel mit der Renovation zu tun. Für 35 Millionen Franken hat die Stadt Bern das Bad erneuert. Statt auf kratzigem Altbeton, badet man nun im Pool auf einer grau-glatten Beschichtung. Eine Rutschbahn gibt es jetzt auch, die denkmalgeschützten Garderoben wurden restauriert. Zur Wiedereröffnung nach mehr als einem Jahr Bauzeit berichteten diverse Medien vom Berner Bad. Blick-TV sendete gar einen ganzen Tag live vor Ort.
Die Berner machen den grössten Pool Europas gern kleiner. Weyerli, sagen sie ihm.
23 Millionen Liter Wasser, 16’000 Quadratmeter Wasserfläche – der grösste Pool Europas steht im Weyermannshaus. Das Bad ist Teil eines wahren Badilands. Über 600 öffentliche Frei-, See- und Flussbäder gibt es zwischen Genf und St. Gallen. Auch das: ein europäischer Spitzenwert.
Der Pool in Bern ist fast so gross wie drei Fussballfelder. Die Berner machen ihn aber gern kleiner. Weyerli, sagen sie ihrem Bad. Der Name geht auf drei natürliche, vom Grundwasser gespeiste Weiher zurück.
Es soll nicht wenige Stadtberner geben, die noch nie da waren. Das hat viel zu tun mit der Lage. Auch wenn der geografische Mittelpunkt der Stadt mitten auf dem Areal liegt – das grosse Bad steht für manche Innenstadtbewohner gefühlt auf der anderen Seite. Die Autobahnbrücke teilt: Bern da, Bümpliz und Bethlehem dort.
Die zwei Quartiere mit vielen Wohnblocks haben einen Ausländeranteil von knapp 50 Prozent. Und nirgends ist Bern, diese Stadt der Beamten und Studierten, verdichteter und jünger. Rund 5000 Jugendliche leben in diesen beiden Aussenquartieren. Und natürlich kennen sie alle den Hügel im Weyerli.
Kurz nach Mittag an diesem heissen Sonntag. Beinahe minütlich füllt sich die leicht abfallende Wiese des Hügels.
Hier trifft sich die Jugend. Das ist auch im Toj, bei den Jugendarbeitenden in Bümpliz bekannt. Co-Leiter des Jugendhauses Lauritz Mori sagt: «Das Weyerli war schon immer ein Ort, wo die Jungen sozialisiert wurden, wo sie gelernt haben, zusammen auszukommen. Stress gibts dort nur selten.» Der Jugendarbeiter erzählt von Bümpliz, das gern als Ghetto abgetan wird. Klar, gebe es Probleme. «Aber das Klischee wird halt schon sehr gern bedient.» Er hingegen sehe jeden Tag, wie erstaunlich gut das Zusammenleben funktioniere.
Der Hügel im Südostteil der Anlage ist gut geschützt; vor den Blicken der älteren Gäste; vor allem aber vor den Blicken der Bademeister. Es wird geraucht, Wasserpfeifen blubbern, aus Boomboxen dröhnt Rap. So weit das Klischee.
«Alle bleiben easy hier.»
Muskelbepackte Teenies rennen Richtung Beckenrand, schubsen sich rein. Es ist nur ein Spiel. «Alle bleiben easy hier», sagt Arton. Er ist 15, aus Bümpliz. Ins Weyerli kommt er schon ein Leben lang. Alle seien hier: seine Kumpels und natürlich die Ladys.
Zeit für die grosse Bümplizer Sommerliebe? Muskelprotz Arton zeigt das verlegene Lächeln eines Teenagers. Er wirkt plötzlich wieder jünger. «Ich muss aufs Inseli», sagt er freundlich und verschwindet Richtung Schwimmbecken.
Der kreisrunde Steg in der Mitte des riesigen Pools ist das Herzstück des Weyerlis. Hier wird gerangelt und geflirtet. Wer es aufs Inseli schafft, gehört zu den Grossen.
14 Uhr. Das Bad ist mittlerweile voll. Und doch kommen immer noch mehr Leute. Der Lärm rund ums Becken steigt und draussen auf dem Parkplatz, hört man, gibts Stress. Es wird gehupt, Männer steigen aus ihren stehenden Autos aus, beginnen zu streiten. Es gibt gerade mal knapp 300 Parkplätze in der Nähe.
Wann Ruhe einkehrt
Am Montag danach hats auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haupteingang genug Platz. Martin Sommer und sein Chef Hanspeter Heiniger sitzen noch immer auf der Terrasse des Restaurants, Mittagspause. Der Pächter ist relativ neu, das Essen ist gut.
Heiniger sagt: «Wenn es draussen keine freien Parkplätze mehr gibt, erhitzen sich die Gemüter.» Aber sobald die Menschen drinnen ihr Plätzchen gefunden, die Kinder ihre erste Glace gegessen und die Eltern gebadet hätten, kehre Ruhe ein. «Dann wirkt der Geist des Weyerli», sagt Hanspeter Heiniger und lächelt versonnen.
Dieser Geist beruhigt Teenies, besänftigt gestresste Familienväter, befriedet zerstrittene Pärchen. Im Gratis-Freibad Weyermannshaus findet jede und jeder seinen Platz. Und alle haben freie Sicht auf die grosse Wasserfläche. «Man kann sich hier recht gut aus dem Weg gehen, wenn man will», sagt Heiniger. «Ich staune manchmal trotzdem, wie wenig bei diesen grossen Menschenansammlungen passiert.»
Jugendarbeiter Lauritz Mori spricht im Zusammenhang mit dem Bad von einem Safer Place, einem sicheren Ort. «Auch die grossen Unruhestifter wollen mal ausspannen», sagt er. Vor allem sei das Weyerli kein anonymer Ort. Onkel, ältere Brüder, Cousinen, Freunde – sie sind alle in der Nähe. Und sie alle wollen nur eines: kein Stress.
«Es hat Platz für die Jungen, für die Familien und für die alten Feger.»
Kein Stress. Das gilt auch für Pesche, einen der vielen Stammgäste. «Nume nid gsprängt», sagt er. Dabei streckt der Rentner seinen grossen, braunen Bauch in die Sonne. Der 70-Jährige trägt ein tarnfarbenes Höschen, die enge Version. Er geht schon lange nicht mehr nach Italien oder Spanien. Den Sommer verbringt er jeweils hier. «Ich habe alles im Weyerli. Und es hat Platz für die Jungen, für die Familien und für die alten Feger.»
Er lacht und stolziert Richtung Schlaufe – so heisst die Wiese direkt unterhalb des Restaurants. Dort nehmen die Alteingesessenen jeweils ihre Plätze ein.
19 Uhr. Luft: 30 Grad. Wasser: 25 Grad. Tausende Menschen liegen zusammen in der Sonne, die lange, weiche Schatten zeichnet. Kollektive Friedfertigkeit.
«Ich mag diese Stimmung sehr», sagt Bademeister Sommer und zieht bereits Bilanz dieses Sonntags mit über 10’000 Menschen: zwei Besoffene am Vormittag, der Bienenstich; am Nachmittag zwei Kinder, die verloren gingen und wieder ihren Eltern zugeführt werden konnten. Sonst: nichts.
Es war heavy und doch easy im grössten Pool Europas.
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