Syrerin Aisha Khalil104 Jahre alt, geflüchtet, geimpft
Anderswo macht das Wort «Impfstoffnationalismus» Karriere. Jordanien hingegen hat sich entschlossen, auch die 660’000 Flüchtlinge, die es beherbergt, gegen Corona zu impfen. Die 104-jährige Syrerin Aisha Khalil sagt: «Ich bin glücklich.»
Da sitzt sie nun, in einem Spital im Norden Jordaniens, vor einem Fenster mit Alurahmen und, noch wichtiger: vor einer Heizung. Der Januar hat auch in Nahost die Temperaturen an die Null-Grad-Grenze gedrückt, und dort, wo Aisha Khalil wohnt, macht die Kälte den Menschen besonders zu schaffen: Die Grossmutter aus Syrien lebt in einem Flüchtlingscamp – im Alter von 104 Jahren.
Zaatari heisst der Ort, nach dem wilden Thymian, der hier wuchs, bis die ersten Flüchtlinge ihre Zelte aufstellten. Aisha Khalil kam 2013, mittlerweile ist aus dem Camp die viertgrösste Stadt Jordaniens geworden. Fast 80’000 Menschen leben hier, die Hauptstrasse trägt den Namen «Champs-Élysées», es gibt Läden und Imbissbuden, Schulen und Sportplätze. Die Zelte sind längst durch Container ersetzt worden. In einem solchen lebt auch Khalil mit ihrer Tochter. Sie haben darin eine eigene Waschgelegenheit, das ist gut, doch gegen die Kälte helfen die Metallwände wenig.
Sie kann mit der Enkeltochter spielen
Im nahen Spital, in das Aisha Khalil kürzlich gebracht wurde, läuft eine Videokamera. Blitze von Fotoapparaten zucken, als Khalil den linken Oberarm frei macht, ein pinkes Oberteil blinkt unter ihrem schwarzen Überwurf auf. In ihren Augen zwischen dem braun gemusterten Kopftuch und dem schwarzen Mund-Nasen-Schutz ist etwas Aufregung zu erkennen, als die Schwester eine Spritze vorbereitet. Nach einem Piks hat Khalil es überstanden.
Sie zählt nun zu den ersten 150 Flüchtlingen, die in Jordanien gegen Covid-19 geimpft wurden. Während andere Länder um Lieferungen zanken und das Wort «Impfstoffnationalismus» Karriere macht, hat sich Khalils Gastland entschlossen, auch die 660’000 Flüchtlinge zu immunisieren, die es beherbergt. «Ich bin glücklich», kann Khalil nun sagen, «jetzt kann ich wieder meine Unterkunft verlassen und meine Enkeltochter besuchen.»
So gründlich die Pandemie die Welt auf den Kopf stellen mag: In der Lebenserzählung der 104-Jährigen wird sie nur eine von vielen Volten bleiben. Als Khalil 1916 geboren wurde, unterzeichneten in Europa Frankreich und Grossbritannien das verhängnisvolle Sykes-Picot-Abkommen, in dem sie den Nahen Osten unter sich aufteilten. Die willkürliche Grenzziehung führt bis heute zu Konflikten.
Als kurz darauf Lawrence von Arabien in ihre Stadt einritt, war Khalil ein Kleinkind. Einen Weltkrieg später, 1946, erlebte sie die Ausrufung der Syrisch-Arabischen Republik als 30-Jährige. Und als sich Hafiz al-Assad zum Herrscher aufschwang und 1971 mit 99,2 Prozent zum Präsidenten wählen liess, hatte Aisha Khalil schon ein erfülltes Leben hinter sich. Sie war 55, hatte drei Kinder grossgezogen, einen Sohn und zwei Töchter.
Seit 1996 ist Aisha Khalil Witwe, vier Jahre später starb auch Assad, der das Land mit harter Hand regiert hatte. Sein Sohn Bashar veränderte wenig. Im März 2011 schmierten Jugendliche in Daraa vom Arabischen Frühling inspirierte Parolen an Wände und wurden dafür gefoltert. Bewohner der Stadt protestierten, Bashar al-Assad liess Panzer auffahren und schiessen. Khalils Geburtsort trug fortan in Syrien den Namen «Wiege der Revolution».
Flugzeuge mit Fassbomben
Als die Rebellen Teile von Daraa unter ihre Kontrolle gebracht hatten, schickte der Diktator Flugzeuge mit den gefürchteten Fassbomben. Khalils Kinder wollten fliehen und überredeten die Mutter mitzukommen – 97 Jahre alt war sie da schon. Seither lebt Aisha Khalil keine 50 Kilometer Luftlinie weiter im Nachbarland.
Dass sie die Heimat noch einmal sehen wird, wird angesichts ihres Alters von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Doch sie tut alles dafür: Seit die Pandemie begann, blieb Khalil in ihrem Container, steckte sich nicht an, als ein Landarbeiter das Virus im September ins Lager trug. Die Schutzmassnahmen wolle sie aufrechterhalten, sagt Aisha Khalil – und auch nach der Impfung Maske tragen und Abstand halten.
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