Toni Morrisons «Rezitativ»Zwei Mädchen, zwei Hautfarben – und ein grandioses Rätsel
Die Nobelpreisträgerin lässt in einer Erzählung über ein schwarzes und ein weisses Mädchen die «Rassenfrage» offen. 40 Jahre nach der Entstehung ist sie endlich auf Deutsch zu lesen.

1983 schrieb Toni Morrison, die zehn Jahre später als erste schwarze Frau den Literaturnobelpreis erhielt, ihre einzige Erzählung: «Rezitativ». Es war ein Experiment. Wir wissen, dass die beiden Heldinnen Twayla und Roberta, die wir als achtjährige Mädchen in einem Kinderheim kennen lernen und die sich in den folgenden Jahren immer wieder begegnen, verschiedene Hautfarben haben. Aber wer von beiden die Schwarze und wer die Weisse ist, das sagt uns Toni Morrison nicht. Und wir bekommen es auch bei noch so genauer Lektüre nicht heraus.
Jedes Indiz ist zweideutig, in die eine oder die andere Richtung zu lesen. Und so kommt man bei der Indiziensucherei schliesslich darauf, dass genau das unser Problem ist: unsere Prägung, in Kategorien zu denken, Erscheinung, Verhalten, Moral einer Gruppe zuzuweisen (und zu bewerten). Die Kategorien «arm», «vernachlässigt», «fromm», «aggressiv» – sie können auf ein schwarzes Milieu, aber auch auf «white trash» zutreffen. Und dass Roberta, die anfangs nicht einmal lesen kann, reich heiratet und mit Abendkleid, Pelzmantel, Chauffeur und Dienstboten protzt, wofür spricht das?
Erinnerungen trennen sie
Immer wieder entlarvt Toni Morrison unsere Schlussfolgerungen als voreilig, stösst uns mit der Nase auf Vorurteile und Stereotypen. Und entzieht der Kategorie «Hautfarbe», die wir durch unser Herumforschen aufgewertet haben, die Bedeutung. Twayla ist Twayla, Roberta Roberta, egal ob schwarz oder weiss. (Verfilmen lässt sich die Erzählung nicht – das Visuelle ist halt eindeutig.)
Twayla, die Icherzählerin, und Roberta geraten bei ihren Begegnungen immer wieder aneinander und versöhnen sich, auch über die gemeinsamen Erinnerungen. Eine allerdings ist zweifelhaft. Da gab es eine Küchenhilfe mit einer Behinderung, Maggie, von den Heimkindern verachtet. Einmal wurde sie von den grösseren, den «Gar-Girls», brutal zu Boden gestossen. Waren Twayla und Roberta dabei? Haben sie zugesehen, gar mitgetan? War Maggie eigentlich schwarz? Und wenn ja, wie kann man das vergessen?
Hier gehen die Erinnerungen auseinander. Dass sie Maggie haben zu Fall bringen wollen – «und Wollen ist wie Tun», sagt Roberta –, müssen sich beide eingestehen. Maggie war für sie ein Niemand, eine Projektionsfläche für straffreie Aggressionen, und in einer atemberaubend dichten Passage deutet Twayla diesen Wunsch als verschobene Rache an ihrer Mutter, die sie Abend für Abend allein liess, um tanzen zu gehen. Am Schluss bleibt die Erinnerung offen, bleibt da nur der fragende Satz: «Was zum Teufel war da bloss mit Maggie?»
Toni Morrison stört eingefahrene Leseroutinen auf und entlarvt unser Bedürfnis, Individuelles zu kategorisieren.
Auf nicht mal 40 Seiten erzählt Toni Morrison zwei weibliche Lebensläufe im Schnelldurchgang, stört eingefahrene Leseroutinen auf und entlarvt unser Bedürfnis, Individuelles zu kategorisieren. Ein augenöffnendes und hirndurchlüftendes Experiment, das ein literarisches Meisterwerk geworden ist – und erst jetzt, 40 Jahre nach dem Erscheinen!, auf Deutsch zu lesen ist. Zusammen mit einem Nachwort von Zadie Smith, ebenso lang wie die Erzählung, hat Rowohlt ein ganzes Buch daraus gemacht. Und einen zweiten Titel von Toni Morrison hinzugefügt.

In einer Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1992 hat sich die Autorin mit der «afrikanischen Präsenz» in der US-amerikanischen Literatur auseinandergesetzt. Ihr Fazit: Was als «amerikanisch» gilt – und stillschweigend mit «weiss» gleichgesetzt wird –, braucht den Schwarzen als Gegenbild, um sich zu konstruieren.
Vom zentralen Wert «Freiheit», den die aus europäischen Zwängen entkommenen Siedler in der Neuen Welt wünschen und finden, gehen nämlich auch Ängste aus – Angst vor Grenzenlosigkeit, vor Verlassenheit, vor Versagen, vor der Natur. Gegen diese Ängste behauptet sich der «neue amerikanische Mann» mit neuer Macht – über die schwarzen Sklaven. Zugespitzt formuliert, braucht die Freiheit die Sklaverei.
Insider-Deutsch des «rassismussensiblen» Aktivismus
Toni Morrisons Analysen von schwarzen Figuren in Werken von Willa Cather, Edgar Allen Poe, Mark Twain und Ernest Hemingway sind ausserordentlich subtil und gewinnbringend zu lesen. Anders als die Erzählung liegen die Essays bereits seit 1994 auf Deutsch vor. Der Rowohlt-Verlag hat die damalige Übersetzung jetzt einer Überarbeitung unterziehen lassen, die Toni Morrisons Sprache in das Insider-Deutsch des «rassismussensiblen» Aktivismus übertragen hat.
Überall Gendersternchen, von denen Morrison nichts ahnte (sogar die «Dämon*innen» kriegen eins), «race» wird mit «Race» wiedergegeben, das Adjektiv «schwarz» bekommt immer einen grossen Anfangsbuchstaben, «weiss» dagegen einen kursiven. Alles, um zu zeigen, dass diese Wörter etwas anderes bedeuten, keine Realien, sondern soziale Konstruktionen. Damit befindet sich der Text zwar auf der Höhe aktueller Diskursbegrifflichkeit, aber weit weg von einer Lesbarkeit, die ein breiteres Publikum gewinnen kann. Eine nachdrückliche Leseempfehlung für beide Titel sei hier trotzdem ausgesprochen.
Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Weisse Perspektiven und literarische Imagination. Rowohlt, Hamburg 2023. 144 S., ca. 20 Fr.


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