Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Zürcher Slam-Poetry-Szene
«Irgendein Typ kann einen Text über seine Zimmerpflanze bringen, und die Leute gehen ab»

Die 25-jährige Marketingberaterin Michelle Claus teilt regelmässig persönliche Erfahrungen vor Publikum.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Michelle Claus rennt immer mit Schwung auf die Bühne. Das gibt ihr den letzten Selbstbewusstseinskick. Nervös ist die 25-Jährige meist nicht. Und das, obwohl sie an Poetry-Slams intime Texte vorliest. Vor drei Jahren sprach sie an ihrem ersten Auftritt beispielsweise über die Klimakrise und ihre Erfahrung als Ausländerin ohne Stimmrecht. Die Texte kamen beim Publikum gut an. «Da war ich sehr stolz», sagt sie.

Auch Clara Sarnthein kann sich noch gut an ihren ersten Auftritt erinnern. Sie war nervös. Ihren Text, eine Satire über das Zürcher Bürgertum, schrieb sie im Rahmen ihrer Maturaarbeit. Die Zuschauerinnen und Zuschauer applaudierten. Doch das reichte nicht: Nach der ersten Runde schied die 18-Jährige aus.

Der Applaus ist im Kontext eines Poetry-Slams nämlich nicht nur Bestätigung, sondern auch eine Bewertung. In die nächste Runde kommt, für wen am lautesten gejubelt wird. Alternativ stimmen zufällig ausgewählte Zuschauerinnen und Zuschauer über die Performances ab. Die Kunst hat sich also klar als Wettbewerb etabliert. Mittlerweile ist dieser gut strukturiert: Jedes Jahr gibt es eine Schweizer Meisterschaft sowie eine internationale deutschsprachige Meisterschaft, an der die besten Dichterinnen und Dichter gegeneinander antreten.

An ihrem ersten Auftritt präsentierte die 18-jährige Clara Sarnthein einen Text, den sie für ihre Maturaarbeit schrieb.

Die Regeln sind einfach: «Eigentlich kann man vortragen, was man möchte», so Joël Perrin, Arzt, Slam-Poet und Mitorganisator der Eventreihe Slamboss. Zusammen mit der Veranstaltungsgruppe Silbenschmied und den Poetry-Slam-Events der Roten Fabrik bildet Slamboss «Slam Zürich», eine lose Gruppierung, die regelmässig Slam-Abende durchführt. «Man ist extrem frei. Während der sechs Minuten darf man alles machen, ausser sich zu verkleiden, Requisiten zu benutzen und mehr als die Hälfte des Textes vorzusingen», sagt Perrin.

Das Gewinnen kann sich lohnen

Selber slammt Perrin seit rund zehn Jahren. Der Wettbewerbsaspekt sei für ihn aber sekundärer Natur. Denn die Entscheidung darüber, wer gewinne, sei klar subjektiv. «Das ist auch allen Beteiligten klar. Es ist möglich, dass ich mit einem Text an einem Abend nach der ersten Runde draussen bin und an einem anderen Abend den Slam gewinne», sagt er. Annika Biedermann, Mitorganisatorin des Slamboss und Slammerin, stimmt ihm zu: «Am Anfang war mir der Wettbewerbsaspekt noch viel wichtiger als jetzt.» Irgendwann habe sie gemerkt, dass es bei der Abstimmung vor allem darum geht, das Publikum zu unterhalten. «Mit der Bewertung nehmen Zuschauerinnen und Zuschauer eine aktive Rolle ein, sie werden Teil des Geschehens», sagt sie.

Alle erhalten für den Auftritt die gleiche Gage. Beim Slamboss beträgt diese 80 Franken. Das, so Perrin, sei die übliche Summe. An gut bezahlten Slams könne es auch mehr geben.

Zusammen mit Rahel Annina Fink und Lukas Becker organisieren Annika Biedermann (l.) und Joël Perrin (r.) die Eventreihe Slamboss. Hier sind sie mit dem Gewinner ihres letzten Slams, Jan Rutishuser, zu sehen.

Wer öfter mal gewinnt oder gut abschneidet, macht sich in der Szene einen Namen. Daraus resultiert ein gewisser Bekanntheitsgrad, der zu weiteren Angeboten führen kann. Viele fangen nach genug Slam-Erfahrungen mit Comedy an. Hazel Brugger machte es vor, die Luzernerin Julia Steiner, die in den letzten Monaten mit ihren Erfolgen Aufsehen erregte, folgte Bruggers Beispiel.

Auch buchen Privatpersonen oder Unternehmen erfolgreiche Poetinnen und Poeten für Anlässe. «Reich wird man davon nicht, aber als Medizinstudent half mir Poetry-Slam finanziell», sagt Perrin, der 2016 die U-20-Schweizer Meisterschaften gewann und kürzlich als Hochzeitsredner gebucht wurde. So ist das Gewinnen zwar nicht Voraussetzung, aber kann finanziell lohnenswert sein.

Zugänglichkeit umstritten

Wer sich auch mal auf einer Bühne seine Gedanken mit fremden Personen teilen möchte, kann an sogenannte Open-List-Slams gehen. Das sind Slam-Abende, die auch Neulinge willkommen heissen. Dort gibt es jeweils ein Line-up mit erfahreneren Dichterinnen und Dichtern, gegen die die Neuen antreten können. In Zürich werden Open-Lists von Slamboss und Silbenschmied durchgeführt. Silbenschmied bietet zudem regelmässig Events, die nicht Open-List sind. Bedeutet: Dort treten nur Slammerinnen und Slammer auf, die bereits Erfahrung mitbringen. Die Events der Roten Fabrik funktionieren nach demselben, closed-list Prinzip.

Newcomerin Michelle Claus wünscht sich mehr Zugänglichkeit an den Open-Lists. Sie würde Slams bevorzugen, an denen ausschliesslich Neueinsteigerinnen und -einsteiger performen würden. Auch beobachtet sie oft, dass vor allem «leichte Kost» in die nächsten Runden käme, oftmals würden lustige Texte besser bewertet werden. Das, so Claus, sei auch eine Schwierigkeit für die Jury: Es ist nicht einfach, verschiedene Kategorien miteinander zu vergleichen. «Dann bringe ich einen ernsten Text, und irgendein Typ spricht über seine Zimmerpflanze, und die Leute gehen ab.»

Wünscht sich eine zugänglichere Szene: Slam-Poetin Michelle Claus.

Die 18-jährige Clara Sarnthein hingegen stört sich nicht am Wettbewerb. Dass sie an ihrem ersten und bisher einzigen Auftritt nach der ersten Runde ausschied, machte ihr nicht viel aus. «Welcher Text weiterkommt, hängt von der Stimmung des Publikums ab. Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer hat andere Interessen», sagt sie. Sie plant, schon bald an weiteren Slams teilzunehmen.

Auch Michelle Claus freut sich trotz ihrer Kritik auf viele weitere Slams: Ihre Motivation ist es, alle paar Monate Texte teilen zu können. Die Bandbreite der Texte ist es, was sie an der Kunstform fasziniert, sie habe Raum sowohl für Unterhaltung als auch für persönliche Perspektiven. «Alle sollten unbedingt mal slammen. Es ist jedes Mal ein unglaublicher Selbstbewusstseinspush, ganz egal, ob man ins Finale kommt oder nach der ersten Runde ausscheidet.»