TV-Kritik «Tatort»Zu viel gezockt mit der Schicksalsgöttin
Der neue Münchner «Tatort» taucht ab in den lokalen Fasching, beschäftigt aber über die 90 Minuten hinaus.
«Kehraus»: So nennt man in München diese wilden finalen Faschingsbälle, bevor die Fastenzeit beginnt. Und der gleichnamige neue «Tatort» von der Isar taucht in die fünfte Jahreszeit ab – als gäbs kein Corona und keine FFP2-Maskenpflicht, wie sie in Bayern immer noch weithin herrscht. Der Alkohol fliesst, dicht an dicht wird in den Kneipen geschunkelt und gegrölt. Nur Fasnachtsverächter Kommissar Leitmayr (Udo Wachtveitl) werkelt einsam an seinem Velo herum.
Noch in derselben Nacht werden er und sein Kollege Batic (Miroslav Nemec) zu einer Leiche gerufen: Ein älterer Herr liegt tot am Fuss einer Treppe, in der Nähe einer Kneipe. In dieser stossen die Ermittler auf ein sternhagelvolles «Rotkäppchen», eine Blondine mittleren Alters, die eventuell mehr über den Toten weiss. Nina Proll spielt hier grossartig die Antiheldin Silke, eine Frau mit ausschweifenden Visionen, bei der es in echt jedoch bloss zur Faschingsprinzessin gereicht hat. Seit kurzem lebt sie im Auto.
Während Silke ihren Rausch in einer Zelle ausschläft, wacht München auf, in einen grauen Morgen hinein. In Zeitlupe schaukeln schmuddlige Luftschlangen zwischen Schwänen im Wasser: melancholische Reminiszenzen an die kurze Auszeit von der harten Wirklichkeit. Es herrscht Katerstimmung.
Immer wieder setzt die erfahrene «Tatort»-Regisseurin Christine Hartmann auf Kontraste: hier das knisternde, bunte Nachtleben, in dem alles möglich scheint, da das kalte Tageslicht, das alte Auto, das fast leere Portemonnaie; die Stille.
Gemeinsam haben die zwei Bayern-stämmigen Drehbuchautoren Stefan Betz und Stefan Holtz eine Geschichte rund um die Hoffnungen von uns verbiegbaren Otto Normalverbrauchern geschrieben. Diese strampeln sich ab, werden aber niemals die grossen Sprünge machen können, von denen sie träumen: die junge Frau, die mit schmutzigem Geld temporär einen Tattoo-Laden betreibt; der alte Goldhändler (der Tote), der endlich richtig Kasse machen möchte; die gebrechliche Seniorin, die wenigstens ihren riesigen Schäferhund behalten will; und, eben, die geschiedene, risikofreudige Endvierzigerin Silke, deren Firmenideen alle bachab gingen. Nun soll ihr auch noch das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen werden.
Bevor wir uns aber in der kleinbürgerlichen Tristesse allzu gemütlich einrichten, treibt der Krimi rund um einen Koffer voller Geld und das Versprechen auf ein besseres Leben unseren Puls nach oben. Im Zentrum des Wettlaufs gegen die Zeit steht Prolls mitreissende Silke, die einmal zu oft mit der Schicksalsgöttin gezockt hat. Der Schluss hält eine Überraschung bereit, aber keinen Trost. Dafür erfrischt der unerbittliche Existenzialismus der Münchner «Tatorte», samt seinem trockenen Humor – ein Kehraus aller Illusionen.
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