«Xhaka ist ein Symptom des Niedergangs von Arsenal»
Sportjournalist und Autor Raphael Honigstein verfolgt die Geschehnisse in der Premier League seit Jahren. Die Schuld am Eklat von London sieht er nicht bei Granit Xhaka selbst.
Schon fast seit es die Premier League gibt, ist Raphael Honigstein in England. Er hat die glorreichen Zeiten von Arsenal London miterlebt, die Zeiten von Dennis Bergkamp und Thierry Henry, von Robert Pires und Patrick Vieira, und darüber geschrieben. Für den «Guardian», die «Süddeutsche Zeitung» und den «Spiegel». 2017 erschien seine Biografie über Liverpool-Trainer Jürgen Klopp. Heute schreibt der 46-Jährige für das Magazin «The Athletic».
Natürlich war in den letzten Stunden und Tagen auch Granit Xhaka Thema bei Honigstein. Der Schweizer Captain wurde beim letzten Arsenal-Heimspiel ausgebuht und reagierte mit eindeutigen Gesten, das Band zwischen Fans und Spieler scheint zerschnitten. Für Honigstein liegt die Schuld aber nicht nur beim Schweizer, vielmehr liege es am Trainer, der ohne System spielt, und an den Fans, deren Ansprüche und die Realität weit auseinanderklaffen. Das erklärt er im Interview.
Wie würden Sie Granit Xhakas bisherige Zeit bei Arsenal zusammenfassen?
Raphael Honigstein: Xhaka kam von einem sehr detailbewussten Trainer (Lucien Favre, Anm. d. Red.) zu Arsène Wenger, der einfach alles laufen liess. Wengers Masche ist: Der Spieler muss sich selber zurechtfinden, was in Xhakas Position unheimlich schwer ist. Xhaka ist da ein bisschen verloren gegangen, ohne eigene Schuld. Das Problem beim jetzigen Trainer Unai Emery ist ähnlich. Man weiss nicht genau, was diese Mannschaft spielen soll. Die Mannschaft versteht den Trainer nicht immer. Xhaka hat daran nicht unbedingt Schuld.
Wie wurde die Captainwahl aufgenommen in England? «The Sun» schrieb, dass Xhaka der schlechteste Arsenal-Captain aller Zeiten sei.
Man sollte sich nicht daran orientieren, was die «Sun» schreibt. Trainer Emery hat lange gebraucht, um die Captainfrage zu klären, die Mannschaft hat Xhaka gewählt. Er scheint einen guten Einfluss zu haben in der Kabine. Auch ich fand ihn immer sehr zugänglich und angenehm, ich hatte das Gefühl, dass er sich Gedanken macht und bei der Mannschaft beliebt ist. Das Problem ist, dass Emery bewiesen hat, dass ihm das Konzept fehlt. Er hat das einfach auf die Mannschaft weitergeleitet und brauchte bis Oktober. Die Wahl sagt eigentlich mehr über Emery aus als über Xhaka.
Ist Granit Xhaka der richtige Captain für diesen Club?
In der Mannschaft gibt es nicht viele Leute, die dafür infrage kommen. Ich verstehe, warum er da reinpasst. Er verbindet verschiedene Kulturen aufgrund seines Backgrounds, mir würde da kein Besserer einfallen. Im Endeffekt ist das aber auch nicht so wichtig. Das Problem ist nicht, dass er die Binde trägt, die Buhrufe kommen nicht deswegen. Es gibt immer noch diesen unausgesprochenen Vergleich mit früheren Weltklassespielern. Man wirft den Spielern etwas vor, woran sie nicht schuld sind. Bei United gibt es eine ähnliche Dynamik: Die Leute wissen nicht, was sie mit Pogba anfangen sollen. Damit kommen sie nicht klar. Wenn man 100'000 Arsenal-Fans fragen würde, wer Schuld hat, würde Granit vielleicht auf Platz 5 landen. Zuerst käme Emery, dann die Vereinsführung, danach vielleicht die Abwehr mit Sokratis und David Luiz.
Aber die Kritik an ihm ist gerechtfertigt?
Kommt draufan, wie sachlich sie ausfällt. Xhaka macht viele Sachen richtig. Er bringt die Bälle konstant nach vorn. Was man ihm vorwirft, ist, dass er oft dumme Fouls gemacht hat. Der Elfmeter gegen Tottenham (Video unten) war für viele Kritiker die typische Xhaka-Szene, völlig unnötig bringt er die eigene Mannschaft ins Hintertreffen. Er ist ein sehr guter Spieler, aber kein Superstar, der die Mannschaft allein führen kann. Deswegen bleibt vieles an ihm hängen. Man hat das Gefühl, er stehe nicht richtig, die Abwehr sei seinetwegen entblösst. Man hat sich da etwas auf ihn eingeschossen.
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Video: Granit Xhaka schenkt Tottenham einen Penalty
Der Schweizer grätscht Heung-min Son im Strafraum um. (Video: Twitter)
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Wird Xhaka in London also auch zum Sündenbock gemacht?
Absolut. Auch weil Mesut Özil nicht da ist. Diese Phantomdiskussion wird ständig geführt, weil der Club nicht mehr das ganz grosse Niveau vom früheren Arsenal erreicht. Inwiefern das gerechtfertigt ist, ist eine andere Frage. Ich glaube, dass Xhaka ein Symptom des Niedergangs von Arsenal ist. Nicht im Sinne, dass er schuld an diesem ist. Es kommt automatisch mit den grossen Mittelfeldspielern vor ihm, Petit, Vieira, meinetwegen Fabregas. Xhaka gestaltet das neue Arsenal mit und fällt da ab, ist vielleicht überfordert mit der Aufgabe.
Hat Xhaka in den letzten Monaten denn gross etwas falsch gemacht?
Ich glaube nicht, dass man das sagen kann. Er macht Fehler auf dem Platz, aber die machen die anderen auch. Bis auf die eine oder andere Szene, in der man sich gewünscht hätte, dass er cleverer reagiert, kann man keine Fehlerliste erstellen. Er kam nie so richtig rein, weil die Mannschaft nie richtig funktionierte. Es ist schwer, in dieser Mannschaft zu glänzen.
«Der Frust ist mit ihm ein wenig durchgegangen. Ich habe zu einem gewissen Grad Verständnis dafür.»
Verstehen Sie seine Reaktion bei der Auswechslung?
Es war eine verärgerte Reaktion, der Frust ist mit ihm ein wenig durchgegangen. Ich habe zu einem gewissen Grad Verständnis dafür. Kein Spieler will von den eigenen Zuschauern ausgebuht werden. Ich denke, dass es in der Mannschaft dafür durchaus Verständnis gibt. Für die allgemeine Stimmung aber hilft es natürlich nicht. Viele werden sich weiter an ihm abreagieren. Granit muss jetzt aufpassen, dass sich diese Meinung nicht festsetzt, das kann er nur über Leistung und Siege machen. Im Moment wackelt die Mannschaft aber so sehr, dass das schwierig wird.
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Hat Xhaka bei Arsenal überhaupt eine Zukunft?
Ich glaube, dass Xhaka ein grosser Mannschaftsspieler ist. Er ist kein Individualist und will fussballerisch nicht unbedingt im Vordergrund stehen. In einer richtigen Mannschaft mit richtigem Konzept könnte das funktionieren. Er kann nicht fünf Leute aussteigen lassen und den Ball ins Tor hämmern. Er macht ja eher die Sachen im Maschinenraum. Ein wichtiger Job, der darin besteht, andere in die Position zu bringen, wo sie glänzen können. Das ist aber schwierig, wenn es kein kollektives Konzept gibt.
Sie raten ihm also nicht, den Club zu verlassen?
Nein, das würde ich ihm nicht raten. Ich glaube, es kann ihm gelingen, diesen Zorn wieder einzufangen. Das wird sich wieder legen. Es ist halt schwierig, weil die Mannschaft etwas vor sich hindriftet, da ist keiner wirklich zufrieden. Ich glaube auch nicht, dass er gleich das Gefühl hat, dass er jetzt zum Beispiel zu Inter Mailand muss.
Gilt das Arsenal-Publikum als speziell kritisch? Wäre so etwas bei anderen Clubs überhaupt möglich?
Kritisch ist das Publikum schon, weil es verwöhnt wurde und Versprechen nicht eingehalten wurden. Es hiess nach dem Umzug aus dem Highbury Stadium ins Emirates (2006), dass man mit den ganz Grossen mithalten könne, mit Real, Barça, damals Milan und Bayern. Das ist nicht passiert, deswegen ist da eine latente Grundfrustration. Die äussert sich dann in Beschwerden über schlechte Investitionen oder darüber, dass der Trainer nicht weiss, was er macht, oder in dem Fall über einen Spieler, den man verantwortlich macht. Es ist weniger das Thema, dass sie besonders kritisch sind, sondern, dass Anspruch und Realität weit auseinanderklaffen. Bei Arsenal hat man die teuersten Tickets der Welt, und da bekommt man nicht unbedingt den Gegenwert. Das tut den Fans halt weh.
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