Streit um StickstoffWoher kommt die Wut der niederländischen Bauern?
Die Regierung in Den Haag versucht, die hohe Stickstoffbelastung zu reduzieren, und stösst bei den Landwirten auf massive Gegenwehr. Ein Ausweg aus der Konfrontation ist nicht in Sicht.

Christianne van der Wal braucht jetzt Polizeischutz. Dabei würde ihr Titel auf den ersten Blick nicht auf eine besondere Gefährdungslage hinweisen. Die Politikerin der rechtsliberalen Partei für Freiheit und Demokratie (VVD) ist in Den Haag Ministerin für Natur und Stickstoff. In der Rolle ist die 48-Jährige Feindbild der neuen Welle von Bauernprotesten, die das Land die letzten Tage überrollt hat. Christianne van der Wal soll den ehrgeizigen Plan der Koalition von Ministerpräsident Mark Rutte umsetzen, das Stickstoffproblem endlich in den Griff zu bekommen. Und das geht nach Auffassung der Regierung nur durch eine massive Reduktion des Viehbestandes im Land.
Tank voll Gülle versprüht
Am Freitag teilte die Polizei mit, einen Mann vorübergehend festgenommen zu haben. Der 52-Jährige war während der Strassenblockaden wütender Landwirte diese Woche mit seinem weissen Lastwagen aufgefallen, auf dem er implizit zur Ermordung der Politikerin aufgerufen hat. Gegen den Verdächtigen werde Anklage wegen Bedrohung und Volksverhetzung erhoben, so die Polizei. Vor einer Woche hatten Landwirte schon eine Strassensperre durchbrochen und vor dem Privathaus der Ministerin einen Tank voll Gülle versprüht.
Die Kundgebungen waren diese Woche so weit eskaliert, dass die Polizei Schusswaffen einsetzte. Man habe auf eine «bedrohliche Situation» reagiert, als eine Kolonne von Traktoren auf eine Polizeisperre zugerollt sei. Die Bauern blockieren mit schwerem Gerät immer wieder Autobahnen, Regionalflughäfen oder Supermärkte. Dies aus Protest gegen die Stickstoffministerin und ihren Plan, dem Nitratproblem beizukommen. Die Folgen für die Landwirte seien zwar enorm, zeigte Christianne van der Wal Verständnis. Das Land habe aber keine andere Wahl, die Natur könne nicht warten.
100 Millionen Rinder, Schweine und Hühner
Die Regierung will 25 Milliarden Euro einsetzen, um den Stickstoffausstoss bis 2030 um die Hälfte zu senken. Das geht nach Ansicht der Ministerin nur, wenn das Land die Zahl der Nutztiere um ein Drittel reduziert. Einige Bauern werden ihren Bestand massiv reduzieren oder auf extensivere Landwirtschaft mit weniger Tieren auf mehr Fläche umstellen müssen. Vorgesehen sind auch Kompensationen für Landwirte, die ihren Betrieb ganz aufgeben. Im dicht besiedelten Land werden zwischen Städten und Agglomerationen weit über 100 Millionen Rinder, Schweine und Hühner gehalten.
In der Schweiz sind die Zahlen mit 1,5 Millionen Kühen und 1,3 Millionen Schweinen nur ein Bruchteil davon. Kein Wunder, die Niederlande sind der zweitgrösste Agrarexporteur der Welt nach den Vereinigten Staaten. Die Interessenkonflikte im Kampf gegen den Klimawandel werden wie unter einem Brennglas deutlich. Rund ein Viertel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Die Hälfte des Bodens wird meist intensiv für Gemüse-, Fleisch- und Milchproduktion genutzt. Die Landwirtschaft ist für 16 Prozent der niederländischen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ammoniak und Nitrat aus der Gülle belasten Wasser, Luft und Böden oft auch in der Nähe von Umweltschutzgebieten.

Beim schädlichen Stickstoff tragen Bauern mit ihren Mastbetrieben sogar knapp die Hälfte bei, weit vor dem Strassenverkehr etwa mit sechs Prozent. Die «Stickstoffkrise» schwelt in den Niederlanden schon länger, die Regierung hat eine Lösung immer wieder aufgeschoben. 2019 errangen Umweltschützer vor Gericht in Den Haag einen Erfolg und erhöhten den Druck: Das oberste Gericht entschied, Schadstoffbegrenzungen müssten eingehalten werden, und widerrief bis zu einer Lösung des Stickstoffproblems Tausende Baubewilligungen.

Als Teil einer Notstandsgesetzgebung gilt in den Niederlanden inzwischen tagsüber ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde. Nun soll die Agrarwirtschaft ihren Beitrag leisten. Die Regierung will nach den Protesten einen unabhängigen Vermittler einsetzen, um die Ministerin im Streit aus der Schusslinie zu nehmen. Die wütenden Landwirte fordern, dass die Regierung zuerst das «unrealistische Stickstoffziel» vom Tisch nimmt. Ministerpräsident Mark Rutte will aber hart bleiben: Ziel des Plans und Tempo müssten leider bestehen bleiben.
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