Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

«Wo ist man hier noch sicher?»

Blumen liegen in der Nähe eines Tatorts in der Innenstadt von Hanau. Foto: Keystone/DPA/Andreas Arnold
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Die ersten Reaktionen, die an jenem Abend aus Hanau kommen, sind «Çüs» und «Mamma mia!» Es sind Wortfetzen von Augenzeugen, die das Geschehen aus nächster Nähe filmen und ins Internet stellen. Sie klingen aufgewühlt, sprechen einen Mix aus Deutsch und ihrer Zweitsprache – wie viele in Deutschland eben so sprechen. «Çüs» ist der türkische Ausdruck für «Boah».

Der Mann, der dieses Wort in die Nacht zischt, filmt aus einem der oberen Stockwerke, er wohnt schräg gegenüber der Midnight Bar in Hanau, in der an diesem Abend die ersten Schüsse fallen. Er zoomt an eine Menschengruppe heran. Manche von ihnen brüllen, andere weinen. Wieder andere reissen sich los, um in die Bar zu stürmen. Sie vermuten wohl Freunde oder Verwandte unter den Opfern.

Der Anschlag auf zwei Bars in Hanau ist ein Angriff auf das multikulturelle Deutschland, auf Menschen, die ihre Abende in Shisha-Bars ausklingen lassen, auch weil sie wegen ihres südländischen Aussehens nicht in jeden Club reinkommen. Viertel wie der Hanauer Stadtteil Kesselstadt gehören längst zum deutschen Stadtbild. Wettbüros und Taxiunternehmen liegen in Fussnähe zu Kebabständen, türkischen Supermärkten und Friseuren, die sich auf aufwendige Brautfrisuren spezialisiert haben. Auf den Schildern stehen deutsche, arabische oder türkische Schriftzüge. Es sind Viertel, die es in vielen europäischen Grossstädten gibt.

So auch in Berlin. Die Hermannstrasse im Bezirk Neukölln ist einer der Orte in der Hauptstadt, an dem nicht zu übersehen ist, dass hier viele Menschen aus Zuwandererfamilien leben. Sei es, weil Eltern oder Grosseltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, oder aber, weil sie selbst hierher geflüchtet sind. «Antepliogullar? Baklavacisi» heisst zum Beispiel ein Süsswarengeschäft, «Cigköfte Berlin» ein Lokal um die Ecke.

Kemel Kizilgün ist Kurde und vor einigen Jahren aus der Türkei geflohen. Auch mehrere der neun Opfer aus Hanau sollen kurdischer Abstimmung sein. Kizilgün studiert inzwischen Bauingenieurwesen und hilft hier im Kiosk seines Bruders manchmal aus. Es ist einer der klassischen Spätkaufläden in Berlin mit Chips, Zigaretten, Bier und Kaugummis. Von dem Attentat in Hanau hat er bereits Mittwochnacht gehört, das habe ihn erschüttert: «Wegen der Opfer, die ja gar nichts damit zu tun haben.» Aber Angst, dass auch ihn so ein Anschlag treffen könnte, habe er nicht. «Es gibt ja immer so verrückte Leute, das kann man kaum verhindern.» Kizilgün ist 25, ein freundlicher Mann, doch sein Blick auf die Zustände hier in der Gegend wirkt ziemlich fatalistisch. «Man ist nirgendwo sicher», sagt er. «Damit muss man leben.»

«Nicht fremdenfeindlich, sondern rassistisch»

In einem Geschäft nebenan fragt die alleinerziehende Mutter, die Nüsse verkauft: «Wissen Sie, was mich beschäftigt? Wenn jemand die Juden verteidigt, die Muslime aber nicht, dann hat er nichts dazugelernt.» Ihr gehe es darum, dass die Politik und die Sicherheitsbehörden auch die Bedrohung für Menschen muslimischen Glaubens ernster nehmen sollten.

Das fordert auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland. Rechtsextreme Terroristen fühlten sich durch die jahrzehntelange Untätigkeit von Politik und Sicherheitsbehörden zum Schutz deutscher Muslime und Minderheiten ermutigt, derart mörderische Taten zu verüben, erklärt der Zentralrats-Vorsitzende Ayman Mazyek am Donnerstag in Berlin.

In den sozialen Netzwerken kritisieren viele deutsche Muslime, wie über die Tat gesprochen wird. Es handle sich nicht um ein fremdenfeindliches Motiv, wie etwa der hessische Innenminister Peter Beuth oder Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU) am Donnerstag sagen, sondern um ein rassistisches Motiv. (zum Nachrichtenticker)

In Shisha-Bars nicht mehr sicher?

Erst vergangene Woche konnten die Pläne eines rechtsextremen Netzwerks vereitelt werden. Betende Muslime sollten in Moscheen in zehn Bundesländern angegriffen werden. Zwölf Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft. Viele Muslime sehen sich nicht nur in ihrer Religionsausübung gefährdet, sondern auch in ihrem alltäglichen Freizeitverhalten.

Für Öner Sönmez ist der Terroranschlag in Hanau in zweifacher Hinsicht verstörend. Der 36-Jährige ist Inhaber der Shisha-Bar «Balcone Lounge» in Berlin-Kreuzberg. Hier sind 28 Angestellte beschäftigt. Sönmez sagt: «Wir sind alle unter Schock.» Seine Familie stammt aus der Türkei, er selbst ist ein paar Fussminuten entfernt im Urbankrankenhaus zur Welt gekommen. Deutschland ist seine Heimat, er hat sich hier immer wohlgefühlt. Doch mittlerweile fragt er sich: «Wo ist man hier noch sicher?» In Shisha-Bars, wie der Terroranschlag in Hanau zeige, ja offenbar nicht mehr: «Eltern werden jetzt ihren Kindern sagen: Verkehrt nicht an solchen Orten.»

Die Midnight Shisha-Bar war eines der Ziele des rechtsextremistischen Attentäters in Hanau. Foto: Keystone/EPA/Armando Babani

Öner Sönmez weiss natürlich, dass viele Eltern solche Orte schon vorher für gefährlich hielten. In der Presse, sagt Sönmez, würden Shisha-Bars pauschal als Orte des Verbrechens verunglimpft, wo kriminelle Clanfamilien regierten. Er will da auch gar nichts beschönigen, in einigen Strassenzügen von Berlin sei das eine Realität, im Grossen und Ganzen aber ein Klischee, unter dem alle Betreiber zu leiden hätten. «Der Staat versucht, uns mit allen möglichen Auflagen zum Schliessen zu zwingen, wir haben hier fast wöchentlich Razzien», erzählt Sönmez. «Aber wir gehören hier nicht zu diesem Klischee.»

Die Balcone-Lounge ist eher ein Ort, wo das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft zu funktionieren scheint. «Wir haben auch sehr viele deutsche Gäste, Afrikaner und Asiaten oder Stammkunden aus Ostbezirken wie Lichtenberg», sagt Sönmez. Nachmittags schreiben hier Studenten Pfeife rauchend an ihren Hausarbeiten. Von Clanstrukturen keine Spur. Bei Sönmez gibt es die Regel, dass nicht mehr als drei Männer auf einmal reingelassen werden, «damit sich auch die Frauen hier wohlfühlen.»

Sönmez zieht gerade an einer Wasserpfeife. Er hat kurz Zeit für eine Rauchpause, denn die meisten Gäste kommen erst am Nachmittag. Wobei, so sicher ist er sich da jetzt nicht mehr. Er fürchtet, dass sich vorerst niemand mehr wohlfühlen wird in seiner Bar.