Plädoyer für eine verbale AbrüstungWo der Nazivergleich zur Normalität wird, ist kein Dialog mehr möglich
Der Ärger mancher über die Zertifikatspflicht lässt Onlinediskussionen rund um Corona eskalieren. Schneller und stärker als zuvor – das ist bedenklich.
Die Ausweitung der Zertifikatspflicht bewegt die Schweiz. Und immer, wenn etwas bewegt, findet diese Bewegtheit ihren lautesten und unmittelbarsten Ausdruck in den sozialen Medien. Was sich spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 beobachten lässt, sich in den vergangenen Jahren durch das Aufkommen gewisser Populisten verstärkt und beschleunigt hatte, fand in dieser Woche einen vorläufigen Kulminationspunkt: Der Ton ist schlecht bis unerträglich, je nachdem, was man aushalten kann.
Neu ist in der Corona-Krise, dass nicht einfach Beleidigungen und Diffamierungen ausgesprochen werden, sondern reguläre politische Vorgänge in einer Demokratie als illegitim gewertet und in eine totalitäre Ecke fabuliert werden. So beschwören Massnahmengegnerinnen seit Monaten das Bild einer «Impfdiktatur» herauf. Mit einer echten Sorge alerter Bürger vor einer Aushöhlung der Demokratie oder gar einem Abgleiten ins Despotische hat dies freilich wenig zu tun, sondern eher mit einer mehr oder minder diffusen Angst vor einem Kontrollverlust der Einzelnen.
Dieses verzerrte «Wehret den Anfängen» – oft geäussert in kaum verklausulierten Verweisen auf 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland – ist in dieser Woche noch schrilleren Tönen gewichen. Da wurde auf der Facebook-Seite des «Tages-Anzeigers» offen ausgesprochen, bei den Politikern in Bern handele es sich um Faschisten, die Nazis sässen im Bundeshaus. Mehrfach fiel das Wort Auschwitz – glücklicherweise, auch das sei angemerkt, nicht ohne Widerspruch. Ein Kommentierender äusserte die Befürchtung, er als Ungeimpfter werde vermutlich bald abgeholt und ins Lager gebracht. Überhaupt, der Vergleich mit den Juden als Opfer der Nationalsozialisten fällt immer wieder, manch einer möchte sich am liebsten einen Judenstern an den Ärmel stecken.
Da schreibt jemand allen Ernstes «Impfen macht frei»
Diese Einwürfe werden nicht als finale Reaktion in einer entgleisten Diskussion gepostet; Godwin’s Law, das besagt, dass sich mit zunehmender Dauer eines Online-Schlagabtausches die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nazivergleich fällt, dem Wert eins nähert, greift hier nicht. Statt der unschönen, aber in der Hitze des Gefechts vorkommenden Nazikeule wird hier bewusst, schnell und maximal eskaliert.
In einem weiteren Kommentar auf Facebook schreibt jemand: «Impfen macht frei», in Anspielung auf das Tor zum Vernichtungslager Auschwitz, über dem das ebenso zynische wie widerwärtige «Arbeit macht frei» prangte. Sogar bei der absolut harmlosen Feststellung, dass persönliche Entscheidungen Konsequenzen hätten, folgt der abstruse Vorwurf, die Person verwende eine den Nazis ähnliche Rhetorik.
Reto Lipp, der auf Twitter eine Art Medienspiegel betreibt und mit anderen Nutzern diskutiert, musste sich gestern sagen lassen: «Du hättest auch Juden ins Gas geschickt» – schlicht, weil er ein Zitat der Zürcher Gesundheitsdirektorin Nathalie Rickli getwittert hatte. Eine weitere Person bescheinigt den SRF-Moderator als Reaktion auf den gleichen Tweet: «Adolf wäre stolz auf dich.»
Der Nazivergleich verunmöglicht einen konstruktiven Dialog
All diese Vergleiche und Verweise sind gefährlich, egal, ob sie aus einer leichtfertigen Geschichtsvergessenheit, aus tatsächlichem Unwissen, als gezielte Provokation getätigt werden oder sogar ernst gemeint sind.
Weiss die Person, die so kommentiert, schlicht nicht, welche Parallelen sie zieht, oder verharmlost sie leichtfertig die Verbrechen faschistischer Gewaltherrschaft, ist dies ein Indikator für die seit langem gehegten Befürchtungen, die Taten der Nationalsozialisten und ihrer Helfer könnten in Vergessenheit geraten. Somit verschöbe sich auch unsere Wahrnehmung des Bösen sowie dessen, was demokratisch legitimiert und was nicht.
Werden diese Nazivergleiche als Provokation eingesetzt, wird ein konstruktiver Dialog vorsätzlich verunmöglicht, die Eskalation ist gewollt, das kurz greifende Ziel.
Wer überzeugen möchte, muss verbal abrüsten
Und wenn jemand ernsthaft der Ansicht ist, als Nächstes drohe den Ungeimpften eine Internierung in Lagern, zeugt dies zum einen davon, dass es Ängste (wie rational oder irrational, sei dahingestellt) gibt, die der normale Politikbetrieb diesen Menschen nicht zu nehmen können scheint; zum anderen aber auch davon, dass es in Teilen der Bevölkerung ein stark verzerrtes Bild der politischen Realität in der Schweiz gibt. Natürlich besteht hierzulande aktuell nicht die Gefahr, dass Demokratie in bedenklichem Masse abgebaut würde oder die Rechte Einzelner oder bestimmter Gruppen nicht mehr gewahrt wären. Die Tatsache, dass das politische Tagesgeschäft nach Unterbrechungen in den vergangenen anderthalb Jahren mittlerweile wieder normal läuft und im November sogar über das Covid-19-Gesetz abgestimmt wird, zeugt davon.
Egal, aus welchen Beweggründen derart überspitzte Vorwürfe und Beleidigungen getätigt werden, sie führen in keinem Fall zu einem fruchtbaren Diskurs. Wer sich mit seinem Gegenüber verständigen und ihn oder sie von den eigenen Standpunkten überzeugen – oder einfach nur die eigenen Ängste und Sorgen ausdrücken – möchte, sollte daher verbal abrüsten.
«Aber was ist denn mit der freien Meinungsäusserung?», mögen Sie nun vielleicht entgegnen. Es geht nicht darum, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Im Gegenteil: Wer seine Standpunkte pointiert artikuliert und auf die Effekthascherei der Nazikeule oder anderer Beleidigungen verzichtet, wird besser gehört.
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