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Meinung

Leitartikel zum Lehrkräftemangel
Wir müssen diese Tabus brechen

Qualifizierte Lehrkräfte dringend gesucht: Eine Lehrerin vor Schülerinnen und Schülern einer 6. Klasse in Thun.
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Arbeitsbedingungen, Wertschätzung, Tätigkeitsspektrum: Diese drei Faktoren beeinflussen gemäss organisationspsychologischen Studien entscheidend, wie zufrieden wir mit unserem Job sind. Es ist eine intuitiv naheliegende Erkenntnis – und doch gelingt es vielen öffentlichen und privaten Arbeitgebern in unserer modernen Leistungsgesellschaft nicht, diese fundamentalen Prinzipien umzusetzen. 

Das zeigte sich unlängst bei den Pflegenden, die via Volksentscheid strukturelle Verbesserungen für ihren Berufsstand erkämpften. Und es zeigt sich aktuell bei den Lehrkräften, die zurzeit händeringend gesucht werden. Der Mangel ist in zahlreichen Kantonen derart eklatant, dass vielerorts unterqualifizierte Quereinsteigerinnen oder pensionierte Lehrer rekrutiert wurden. Diese Notfallübungen werfen die Schuldfrage auf – und in der emotionalen Debatte schieben sich Lehrergewerkschaften und Bildungspolitiker gegenseitig die Schuld zu. 

Dabei ist die Antwort auf die Frage, wie es so weit kommen konnte, gar nicht so schwierig: Die drei fundamentalen Faktoren für die Arbeitszufriedenheit stimmen im Lehrberuf seit langem nicht mehr. Es war ein schleichender Prozess – aber einer, der fahrlässig herbeigeführt wurde. 

Oder die Wertschätzung: Längst vorbei sind die Zeiten, als der Lehrer neben dem Arzt und dem Pfarrer die höchste Autorität im Dorf war.

Zum Beispiel die Arbeitsbedingungen: Mit politischen Reformen wurde den Schulen in den vergangenen 20 Jahren zwangsweise eine neue Realität übergestülpt. So sind heute Kinder, die einst in Sonder- oder Kleinklassen unterrichtet worden wären, in Regelklassen integriert. Lehrkräfte unterrichten also verhaltensauffällige, lernschwache, beeinträchtigte und fremdsprachige Kinder gleichzeitig – meist ohne ausreichend Ressourcen dafür zu haben. Es fehlen sowohl die finanziellen Mittel als auch die Heilpädagoginnen, um den regulären Schulbetrieb mit individuellen Förderlektionen ausreichend zu entlasten. Technokraten und Theoretikerinnen gingen mit hehrem Ziel ans Werk, die Hauptlast derart heterogener Klassen tragen aber die Lehrerinnen. 

Oder die Wertschätzung: Längst vorbei sind die Zeiten, als der Lehrer neben dem Arzt und dem Pfarrer die höchste Autorität im Dorf war. Man muss das nicht bedauern – eine egalitäre Gesellschaft zeichnet sich auch durch flachere Hierarchien aus. Aber der Ansehensverlust der Lehrer im Vergleich zu den «Göttern in Weiss» ist frappant. Das ärztliche Urteil wird kaum je angezweifelt, das pädagogische hingegen andauernd. Schliesslich waren die Eltern selbst einmal in der Schule, und das Projekt Kind verdient, unabhängig von der effektiven Leistungsfähigkeit, die bestmögliche Zukunft. Für viele Lehrkräfte ist deshalb die intensivere Elternarbeit eine Belastung. 

Und schliesslich das Tätigkeitsspektrum: Lehrkräfte empfinden ihre Arbeit, auch das belegen Studien, als hochgradig sinnvoll. Doch das Unterrichten nimmt einen immer kleineren Anteil im Jobprofil ein. Administrative Aufgaben dagegen – Abklärungen, Nachweise, Berichte – werden immer umfangreicher. Auch deswegen reduzieren viele Lehrpersonen ihre Pensen.

Wir müssen wieder über ein erweitertes Angebot an Kleinklassen reden.

Nur wenn die Arbeitsbedingungen wieder besser, die Wertschätzung höher und das Tätigkeitsspektrum fokussierter wird, wird es gelingen, genügend Lehrkräfte im Beruf zu halten. Dafür müssen allerdings Tabus gebrochen werden. 

Wir müssen erstens wieder über ein erweitertes Angebot an Kleinklassen reden. Schwierig in die Regelklasse zu integrierende Schüler sollten – je nach Bedarf vorübergehend, teilweise oder längerfristig – wieder häufiger separat gefördert werden. Das Ideal der Integration mag auf dem Papier gut klingen, in der Praxis funktioniert es nicht überall. Die kantonalen Bildungsdirektionen sträuben sich dagegen. Wollen sie diesen Weg aber nicht gehen, müssen sie deutlich mehr Mittel in die integrative Förderung investieren. 

Zweitens müssen wir die Diskussion über die Teilzeitarbeit führen. Nur knapp ein Drittel der Lehrkräfte ist Vollzeit beschäftigt. Ein Drittel arbeitet gar weniger als 50 Prozent. Würden alle Pädagogen ihr Pensum um 10 Prozentpunkte aufstocken, so die Berechnung von Bildungsforschern, wäre der Lehrerinnenmangel behoben. Das liesse sich ohne begleitende Entlastungsmassnahmen nicht realisieren. Trotzdem ist der Beschäftigungsgrad der Lehrkräfte entscheidend für ihre Akzeptanz als Autoritätspersonen. 

Mindestpensen müssten Standard werden, um die Teamkolleginnen mit höheren Pensen zu entlasten. 

Zu viele Lehrkräfte unterrichten in einem Kleinstpensum, um daneben ausreichend Zeit für die Familienarbeit oder das Hobby zu haben. Wer die Prioritäten so eindeutig zuungunsten des Schulbetriebs setzt, muss sich nicht wundern, wenn es in der Lehrerrolle an Respekt und Ansehen mangelt. Schulleiterinnen sollten deswegen die Teilzeitarbeit einschränken. Mindestpensen müssten Standard werden – gerade auch, um die Teamkolleginnen mit höheren Pensen zu entlasten. 

Denn drittens muss die Situation der Klassenlehrerinnen im Fokus stehen. Sie tragen die volle Verantwortung in den Schulzimmern. Und müssen umso mehr Administration übernehmen, je mehr Teammitglieder in Niedrigpensen arbeiten. Dafür müssten sie wirkungsvoller entlastet werden, etwa mit einer geringeren Lektionenzahl bei gleichem Lohn. Hier ist die Politik in der Pflicht. 

Dogmen wie die Integration oder Niedrigpensen gelten heute als unantastbar. Damit Verbesserungen für den Berufsstand möglich werden, müssen sich aber alle Beteiligten dieser Diskussion stellen.