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Meinung

Kolumne von Barbara Bleisch
Wir dürfen keine phobische Gesellschaft werden

Jedes Niesen steht in der Pandemie unter dem Generalverdacht eines öffentlichen Gesundheitsrisikos.
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Zum Aufatmen ist es noch zu früh. Doch die Zeichen verdichten sich, dass wir dank Omikron bald in die endemische Phase eintreten könnten. Dann werden wir mit dem Virus leben, ohne dass Todeszahlen in die Höhe schnellen oder eine Überlastung der Intensivstationen droht.

Ebbt die Pandemie ab, gesundet die Gesellschaft. Wie nach jeder schweren Erkrankung, folgt dann die Phase der Rekonvaleszenz. Erholen müssen sich aber nicht nur die von Long Covid Betroffenen. Rekonvaleszent sind wir auch als Gesellschaft. Ein gebrochenes Bein mag schnell geschient sein. Die Muskeln wieder aufbauen und ohne Furcht auftreten lernen, das braucht dagegen Ausdauer und Mut.

Totale Sicherheit wird es auch postpandemisch nicht geben.

Was uns als pandemiegebeutelte Gesellschaft in der Rehabilitation erwartet, sollten wir jetzt antizipieren. So schnell man in der Krise Regeln erlassen hat – sie wieder abzubauen, wird nicht einfach.

Das betrifft erstens die Politik. Zwar werden Freiheitsbeschränkungen selten ohne Murren akzeptiert. Das war und ist auch in der Pandemie so. Doch haben Behörden erst mal etwas verboten, lastet die Verantwortung schwer auf ihnen, die Risiken einer Verbotsaufhebung abzuschätzen.

Sperrt ein Kanton eine Durchgangsstrasse wegen Bergsturzgefahr und gibt diese kurze Zeit später wieder frei, wird er mit Vorwürfen überhäuft, wenn dennoch ein Fahrzeug verschüttet wird. Wurde die Strasse hingegen gar nie gesperrt, bucht man den Schaden eher als Unglück ab.

Totale Sicherheit wird es auch postpandemisch nicht geben. Weiterhin werden Menschen am Virus sterben, so wie jede Grippewelle Todesopfer fordert. Wollen wir nicht ewig Zertifikate vorweisen und Masken tragen, müssen wir tolerieren, dass die Rücknahme von Regeln kein Vollkaskoversprechen ist. Freiheit bedeutet, mit Risiken zu leben.

Ins Rehabilitationstraining müssen wir zweitens, was den persönlichen Umgang anbelangt. Die Pandemie hat uns Argwohn eingebläut: Ein Handschlag mag nett gemeint sein. Aber hat sich das Gegenüber vorher die Hände gewaschen? Menschenansammlungen sind immer auch Virenhaufen. Wer garantiert, dass nicht gefährliche Erreger dabei sind? Auch eine harmlose Grippe kann sich für alte Menschen zur Lungenentzündung auswachsen. Wer weiss schon, ob wir nicht jemanden gefährden, wenn wir erkältet das Haus verlassen?

Der Rechtsphilosoph Joel Feinberg unterscheidet zwischen zwei Formen der Schädigung: «harming» und «wronging». Schädigen wir jemanden im Sinne von «harming», verletzen wir zwar seine Interessen. Dazu können wir aber durchaus berechtigt sein. Es mag beispielsweise gegen die Interessen meiner tierhassenden Nachbarn verstossen, wenn ich eine Katze anschaffe. Habe ich mich jedoch mit meinen Vermietern abgesprochen, tue ich den Nachbaren kein Unrecht im Sinne von «wronging».

Delegieren wir die Verantwortung fürs eigene Wohl nicht wieder zurück an jeden Einzelnen, werden wir zur phobischen Gesellschaft.

Hat mein Kind jedoch eine starke Katzenhaarallergie, und ich gebe meiner Katzenliebe dennoch Priorität, verletze ich die Interessen meines Kindes in unzulässiger Weise («wronging»): Erstens weiss ich um die Gefährdung meines Kindes, zweitens bin ich verantwortlich für sein Wohl. Jemandem im moralischen Sinn Unrecht zu tun, setzt also Wissen und moralische Verantwortung voraus.

In der Pandemie haben sich Wissen und Verantwortung ausgedehnt: Wir wussten um die Gefährlichkeit des Virus. Wir lernten, wie man sich gegen die Übertragung schützt. Und wir waren dazu aufgerufen, umfassend Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Jedes Niesen wurde zur Fahrlässigkeit, jedes Verlassen des Hauses mit Husten zur Verletzung von Sorgfaltspflichten. Delegieren wir die Verantwortung fürs eigene Wohl nicht wieder zurück an jeden Einzelnen, werden wir zur phobischen Gesellschaft, die ihren Argwohn zum Lebensgefühl erhebt. Jedes «harming» wird dann als «wronging» ausgelegt: Als eine Schädigung, für die jemand verantwortlich und zur Rechenschaft zu ziehen ist.

Wir dürfen auf baldige Gesundung dank Omikron hoffen. Die Rehabilitation steht uns dann noch bevor.