Lesende fragen Peter SchneiderWie reichen wir Ungeimpften die Hand?
Die Antwort auf die Frage, wie die Gesellschaft mit Skeptikern umgehen kann, ohne dass Letztere das Gesicht verlieren.
Viele Ungeimpfte scheinen sich so in ihren Argumenten verrannt zu haben, dass sie kaum mehr ihre Meinung ändern und sich impfen lassen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Gibt es eine Möglichkeit, ihnen als Gesellschaft die Hand zu reichen? Oder ist es dafür zu spät? R.G.
Lieber Herr G.
Man muss ihnen weder die Hand reichen, noch ist es für die (meisten) Ungeimpften zu spät: Das Problem wird sich mit der Zeit von allein lösen. Nämlich dann, wenn die Pandemie vorüber ist, der Entscheidungs- und Bekenntnisdruck nachlässt und damit der Impfstatus «nicht geimpft» seine identitäts- und gemeinschaftsbildende Wirkung verliert. Dann wird Impfgegnerschaft wieder eine Marotte unter anderen geworden sein. Nicht harmlos (zum Beispiel was die Impfpflicht bei Masern, Mumps und Röteln betrifft oder die Impfung von Pflegepersonal gegen Grippe in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen), aber vielleicht mit Argumenten oder durch sozialen Druck nicht ganz unbeeinflussbar.
Unter den Bedingungen der Pandemie konnten sich solche Skeptiker in eine breite Querfront von Leuten einreihen, die unter anderen Bedingungen nicht unbedingt zusammengekommen wären: Homöopathinnen, Naturheilkundler und anthroposophische Lehrerinnen und Eltern, Rechtsradikale, die gegen den Massnahmen-Faschismus protestieren, Esoteriker, antiamerikanische Verschwörungstheoretikerinnen, Wichtsäcke, die sich auch einmal ihre Viertelstunde Ruhm abholen wollen, Fundis aus der grünen Bio-Szene ...
Nach der Pandemie wird die Impfgegnerschaft wieder eine der vielen Varianten des paramedizinischen Hokuspokus-Glaubens geworden sein.
Nicht alle «Massnahmengegnerinnen» rekrutieren sich beispielsweise aus dem Lager der Hardcore-Anti-Vaxxers um den Mediziner, Scharlatan und Betrüger Andrew J. Wakefield, der behauptet, Autismus werde durch die MMR-Dreifach-Impfung hervorgerufen, könne aber auch geheilt werden. Für die meisten Jünger dieses Gurus ist die Impffrage zur Weltanschauung geworden, oftmals gestützt durch die Empirie der eigenen Betroffenheit: «Mein Kind wurde geimpft, mein Kind ist autistisch – der Zusammenhang ist wohl klar.» Hier zurückzukrebsen, heisst nicht nur, sein Gesicht zu verlieren, sondern auch zuzugeben, dass man sein Kind mit teils gefährlichen Wundermitteln gegen Autismus gequält hat.
Für viele «Impfskeptiker» steht jedoch nicht so viel auf dem Spiel. Nach der Pandemie wird die Impfgegnerschaft wieder eine der vielen Varianten des paramedizinischen Hokuspokus-Glaubens geworden sein, des ganz normalen Misstrauens gegenüber der «Schulmedizin» und der anekdotischen Statistik: «Ich habe während der Pandemie jeden Tag eine Orange gegessen und mich viel an der frischen Luft bewegt und bin gesund geblieben.»Jedem Tierchen sein Pläsierchen, denkt man dann, meidet Diskussionen und hofft auf ein bisschen postpandemische Erholung.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch
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