Zurück im BundeshausWie in einer Legebatterie: Das Parlament tagt hinter Plexiglas
Am Montag kehrt das Parlament ins Bundeshaus zurück. Hunderte Schutzwände sollen einen «möglichst normalen» Betrieb ermöglichen. Derweil sucht die Bundesversammlung nach Wegen, um in einer nächsten Krise von Anfang an mitzubestimmen.
Vielleicht hätte man doch ins Plexiglas-Business einsteigen sollen. Goldene Zeiten! Das Bundeshaus sieht in diesen Tagen aus wie der etwas zu gross geratene Showroom der lokalen Plexiglas-Industrie. Jeder Sitzplatz in den Rats- und Sitzungszimmern ist mit einer Plexiglas-Box ausgerüstet. Alles auf Mass gearbeitet natürlich und mit einem Twist versehen. Wenn sich die Politikerin oder der Politiker am Platz niedergelassen hat, kann die Box mit einem Handgriff noch vergrössert werden. «Dringend empfohlen» sei das Ausklappen der zusätzlichen Plexiglas-Flügel, sagte Andreas Wortmann, Leiter Bereich Infrastruktur bei den Parlamentsdiensten, während einer Führung.
«Dringend empfohlen» sei auch das Tragen einer Maske, wenn sich die Parlamentarier nicht an ihrem Platz befänden. Vorgeschrieben ist es jedoch nicht.
Zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie trifft sich das eidgenössische Parlament ab Montag wieder im Bundeshaus. Im Vergleich zum Ausflug in die Bernexpo während der Sommersession, der 3,4 Millionen Franken gekostet hat, ist die Plexiglas-Installation im Bundeshaus vergleichsweise günstig. Für rund 200’000 Franken hat man umgebaut, um einen «möglichst normalen Betrieb» zu ermöglichen, wie Wortmann sagt.
Möglichst normal. Und was heisst das genau? Was tun, wenn tatsächlich jemand erkrankt? Wer muss dann alles in die Quarantäne? Was tun, wenn ganze Fraktionen ausfallen? Ist das Parlament dann noch beschlussfähig?
«Wir sind im Blindflug»
Man wolle die Lage jeweils situativ beurteilen, heisst es dazu aus dem Ratsbüro, das den Parlamentsbetrieb regelt. «Man hat offenbar die staatspolitische Dimension nicht erkannt», kritisiert CVP-Nationalrätin Marianne Binder: «Einmal mehr befinden wir uns im Blindflug.»
Binder hat das Büro in einem Vorstoss aufgefordert, eine Grundlage zu schaffen, damit auch jene Parlamentarier abstimmen können, die aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Bern kommen dürfen. Man könnte dem Tischnachbarn oder via Telefon oder per Mail direkt dem Parlamentsdienst durchgeben, wie man stimmen möchte. «Jetzt ist das Büro gefordert, eine pragmatische Lösung zu finden.»
Eine Antwort auf ihren Vorstoss wird Binder allerdings erst am Montag erhalten – und es wird wohl eine abschlägige sein. Die Parlamentsdienste argumentieren mit der Verfassung, wonach die Parlamentarier während einer Abstimmung «anwesend» sein müssen.
Die Frage, unter welchen Umständen das Parlament noch beschlussfähig ist, geht über diese Session hinaus. Als im März die Session wegen Corona kurzfristig abgebrochen wurde, war das Parlament praktisch ausgeschaltet.
So weit soll es bei der nächsten Krise nicht mehr kommen: Die Staatspolitischen Kommissionen beider Räte wollen das Recht so anpassen, dass das Parlament in künftigen Krisen handlungsfähig bleibt – und den Bundesrat auch dann kontrollieren kann, wenn er wie im Lockdown per Notrecht regiert. Kurz vor den Sommerferien haben sie zwei entsprechende parlamentarische Initiativen ohne Gegenstimmen unterstützt.
Das begrüssen Staatsrechtler. Markus Schefer, Professor an der Universität Basel, fordert: «Die Verfassung muss den Bundesrat in ausserordentlichen Lagen in die Schranken weisen.» Dass dieser Milliarden für die Wirtschaft bereitgestellt habe, sei rechtlich «höchst prekär» – so sinnvoll diese Massnahme auch war. Es sei auch nicht zulässig gewesen, einen Fristenstillstand für Volksinitiativen und Referenden zu verfügen und das strikte Versammlungsverbot so lange aufrechtzuerhalten.
«Verfassungsrechtlich kritisch»
Und er hätte noch weiter gehen können. Andrea Caroni, Rechtsanwalt und FDP-Ständerat, sagt: «Der Bundesrat hätte den Parlamentsmitgliedern zwar nicht verbieten können, das Bundeshaus zu betreten. Aber er hätte mit einer totalen Ausgangssperre erschwert, das sie ihr Haus verlassen. Das wäre verfassungsrechtlich kritisch gewesen.» Caroni hat die Rolle des Parlaments nach dem Lockdown mit Stefan Schmid, Professor für Öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, in einem Aufsatz aufgearbeitet.
Drei Monate lang regierte der Bundesrat mittels Notrecht, vom 16. März bis zum 19. Juni. Dann hob er die ausserordentliche Lage von sich aus auf. Das ist selbst in der Schweiz nicht selbstverständlich. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bundesversammlung dem damaligen Bundesrat fast unbegrenzte Kompetenzen übertragen – worauf er fünfhundert Beschlüsse fasste. Faktisch wurde die Schweiz in jener Zeit von sieben Diktatoren regiert, und als der Krieg vorbei war, meinten sie, das Land nur noch so führen zu können. Es brauchte zwei Volksinitiativen und sieben weitere Jahre, bis die direkte Demokratie wieder installiert war. Und erst 1998 wurde die letzte Verordnung aus jener Zeit aufgehoben: dass Personen aus dem Ausland eine Bewilligung einholen müssen, wenn sie in der Schweiz eine Rede halten wollen.
Heute wäre es unwahrscheinlich, dass der Bundesrat so lange an der Macht festhalte, sagt Andrea Caroni. Parlament, Bevölkerung und Medien seien weniger autoritätsgläubig als damals. «Und die sieben Bundesräte halten sich heute stärker gegenseitig in Schach.»
Gemäss Bundesverfassung muss mindestens die Hälfte aller Mitglieder physisch anwesend sein.
Was soll das Parlament nun tun, um seine Kontrollfunktion abzusichern? Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, schlägt vor, dass es eine Notdelegation schafft, vergleichbar mit der Finanzdelegation, die bei dringenden Ausgaben mitbestimmen kann. Wohl hätte es sich während des Lockdown über Motionen in Regierungsgeschäfte einschalten können, aber dieses Instrument ist langsam.
Nach Ansicht von FDP-Ständerat Andrea Caroni braucht es auch eine Regelung dafür, wie das Parlament virtuell funktionieren kann – dasselbe, was Marianne Binder fordert. Das wäre nicht nur bei einem hochansteckenden Virus nützlich, sondern auch bei einem Atomunfall oder bei Unruhen. Während des Lockdown mussten die Ratsbüros spontan Regeln erfinden, damit wenigstens die Kommissionen per Videokonferenz tagen konnten; die Bundesversammlung darf dies heute nicht – gemäss Bundesverfassung muss mindestens die Hälfte aller Mitglieder physisch anwesend sein.
So wird das Parlament bald prüfen, wie es das Recht am besten anpasst, damit es für die nächste Krise bereit ist. Aber: «Es darf dies nicht allein mit Blick auf die Corona-Krise tun», sagt Markus Schefer. Die nächste Krise werde eine ganz andere sein.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.