Russlands Krieg gegen die UkraineWie die EU Schlupflöcher bei Sanktionen schliessen will
Erstmals will die Europäische Union Strafmassnahmen gegen Unternehmen in Drittstaaten verhängen, wenn diese sich daran beteiligen, Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Die extraterritorialen Strafen nach amerikanischem Vorbild sind umstritten.

Es lohnt sich, die Reiseroute von David O’Sullivan genauer zu beobachten. Der neue EU-Sanktionskoordinator hat bereits die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kirgistan und Kasachstan besucht. Als nächste Stationen stehen Serbien und Armenien auf dem Programm. Es sind die Länder, die im Ruf stehen, als Schlupflöcher bei den Sanktionen gegen Russland zu dienen. Und es sind die Staaten, die in den Fokus des 11. Sanktionspakets gegen Wladimir Putin geraten sind, über das die Botschafter der EU-Staaten am Mittwoch erstmals beraten haben.
Die Premiere dabei: Erstmals erwägt Brüssel nach dem Vorbild der USA extraterritoriale Strafmassnahmen gegen Drittstaaten und Firmen, die dabei helfen, die Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Die Kommission schlägt den Mitgliedsstaaten einen zweistufigen Ansatz vor. In einem ersten Schritt sollen Drittstaaten und Firmen vorgewarnt werden. In einem zweiten Schritt könnte die EU Firmen mit Sanktionen belegen, Exporte auch in gewisse Drittstaaten verbieten und Gelder einfrieren. Auf seiner Rundreise hat David O’Sullivan eine Liste von 770 Produkten oder Bauteilen dabei, die auf dem Umweg etwa über die Staaten Zentralasiens nach Russland gelangt sind und später in Waffen für Putins Krieg in der Ukraine gefunden wurden.
Dual-Use-Produkte
Es geht dabei auch um sogenannte Dual-Use-Produkte, also Bauteile, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können. Dazu gehören etwa Nachtsichtgeräte, die eigentlich für Jäger bestimmt sind, bestimmte Maschinen, Werkzeuge oder Computerchips. Aus der EU darf ein Grossteil dieser Waren nicht nach Russland ausgeführt werden. Auf dem Umweg über Drittstaaten gelangen sie dann doch dorthin. Manchmal finden sich selbst Mikrochips aus Kühlschränken oder Mikrowellen in russischem Kriegsgerät wieder. Der Export dieser Güter mit doppeltem Verwendungszweck hat im letzten Jahr Richtung Kasachstan, Kirgistan oder Usbekistan bis zu 80 Prozent massiv zugenommen. Ein klares Indiz für Umgehungsgeschäfte. Auf den Transitachsen etwa von der Türkei über Georgien nach Russland stauen sich die Lastwagen mit den verbotenen Gütern über viele Kilometer.
Chinesische Firmen im Visier
Für Diskussionen dürfte auch der Vorschlag sorgen, Massnahmen gegen sieben chinesische Firmen zu verhängen. Einige EU-Staaten warnen bereits vor möglichen Gegenmassnahmen Chinas und vor einem gefährlichen Teufelskreis der Eskalation. Die Namen der Unternehmen sollen zu einer Liste von gesperrten Unternehmen hinzugefügt werden. Dabei sind etwa Firmen aus dem Iran, die Russland Drohnen für Angriffe gegen die Ukraine geliefert haben. Laut Medienberichten wäre neu etwa der chinesische Halbleiterhersteller 3HC betroffen. Dem Unternehmen wird vorgeworfen, Exportkontrollen zu umgehen und elektronische Teile für Russlands industriellen und militärischen Komplex zu liefern. Die Reaktion aus Peking liess nicht lange auf sich warten. «Wir fordern die EU auf, nicht diesen falschen Weg zu gehen», sagte ein Regierungssprecher. Andernfalls werde China entschlossene Massnahmen ergreifen, um seine legitimen Rechte und Interessen zu schützen.
Dilemma der EU
Die Suche nach Schlupflöchern illustriert ein mehrfaches Dilemma: An erster Stelle, weil die EU das bisher schärfste Sanktionsregime gegen Russland verhängt hat und Wladimir Putin sich bisher dennoch von seinem Kriegspfad nicht abbringen lässt. Die EU hat seit dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine in Rekordtempo zehn Pakete mit einschneidenden Strafmassnahmen gegen Moskau beschlossen. Und trotzdem zeigt sich Russlands Wirtschaft auf den ersten Blick erstaunlich robust. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaftsleistung nur um zwei Prozent geschrumpft. In diesem Jahr soll sie nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds sogar leicht wachsen.
Sanktionen ein Kraftakt
Es ist zudem immer mehr zum Kraftakt geworden, neue Sanktionspakete zu beschliessen. Alle EU-Staaten müssen den Sanktionen jeweils zustimmen. Zudem gibt es kaum mehr Wirtschaftssektoren, die mit Strafmassnahmen belegt werden können. Ausgenommen sind derzeit noch der Import von ziviler Nukleartechnologie und von Brennstäben. Einige EU-Staaten mit Atomreaktoren sowjetischer Bauart sind jedoch auf die Lieferung von Brennstäben aus Russland und auf die Zusammenarbeit mit der russischen Atombehörde Rosatom angewiesen. Mit Sanktionen gegen den russischen Staatskonzern würde sich die EU vor allem selbst schaden. Ähnlich bei den russischen Diamanten, die traditionell im belgischen Antwerpen verarbeitet werden, Europas wichtigstem Handelsplatz für die Edelsteine. Belgiens Regierung hat sich bisher erfolgreich dagegen gewehrt, den Diamantenkonzern Alrosa mit Sanktionen zu belegen. Die russischen Diamantenschürfer könnten EU-Sanktionen einfach umgehen und ihre Steine in Indien verarbeiten lassen.

Die gute Nachricht aus Schweizer Perspektive: In Bern hat David Sullivan bisher nicht Station gemacht, und ein Abstecher nach Bern sei nicht geplant, heisst es in Brüssel. Der Ire und langjährige EU-Spitzenbeamte ist für die Schweiz ein alter Bekannter. Am Start der Verhandlungen zum Rahmenabkommen vor knapp zehn Jahren war der EU-Spitzendiplomat Kontrahent von Yves Rossier, dem damaligen Staatssekretär und Unterhändler der Schweiz. Bern wäre dem 70-jährigen Iren auf der Suche nach Schlupflöchern im Sanktionsregime zumindest vertraut.
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