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Massnahmen gegen Kältewelle
Lausanne holt seine Obdachlosen von der Strasse

RENENS LE 10 NOVEMBRE 2017.Presque tout les soir des migrants viennent aux alentours du Sleep-In , pour chercher de la nourriture ou des habits distribué par l'association la maraude (association qui distribue des vivres aux SDF) .Devant le bâtiment du sleep-in, une équipe de l'EMUS (Équipe mobile d' urgences sociales) viennent en aide a des personnes.© (24 HEURES /Jean-Paul Guinnard)...
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Drei Decken um sich geschlungen, den Hund mit dickem, weissem Fell unter einem Tuch neben ihm: So sitzt ein Obdachloser in diesen Tagen in der noblen Lausanner Einkaufsstrasse Rue de Bourg. Das Gesicht eingefallen, die Lippen zerrissen, schlottert er selbst bei heftigem Schneefall stundenlang vor sich hin. Viele Passanten kennen den Mann. Einzelne sprechen ihn an und legen ihm einen, zwei oder fünf Franken in eine Holzschachtel. Eine Frau kauft ihm im Café nebenan ein Sandwich.

Dass Obdachlose bei Minustemperaturen in Lausannes Strassen sitzen, will die Stadtregierung verhindern. Erst recht, dass sie nachts in der Eiseskälte in Park, in Gassen oder Unterführungen schlafen. Am Montag hat die Stadtregierung den Plan «Grand Froid» ausgerufen.

6 février  2023   Lausanne  gare CFF   Il y a ce soir au Conseil communal de Lausanne un débat sur les sans-abris de la gare      l'un d'entre eux dort par une trempérature de un degré      PATRICK MARTIN; PATRICK MARTIN / 24HEURES

Der Notplan gegen Kälte besteht aus einem Katalog an Massnahmen, die dann zur Anwendung kommen, wenn die Temperaturen an mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen unter null sind und es zusätzlich Schnee gibt oder die berüchtigte Bise weht. Im Winter 2023 war dies während 22 Tagen der Fall. Als wichtigste Sofortmassnahme stellt die Stadt zu den bestehenden 258 Betten in Notschlafstellen aktuell 50 zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung, in einer Zivilschutzunterkunft, geführt von Zivilschützern und dem städtischen Sozialdienst.

Einer will draussen bleiben

Sozialarbeiter informieren mündlich über den Plan «Grand Froid». An Anlaufstellen hängen Informationszettel. Auch der Mann in der Rue de Bourg, der seinen Namen nicht nennen und schon gar kein Porträt über sich in der Zeitung sehen will, hat davon erfahren. Er schlafe trotzdem weiter im Freien, sagt er trotzig. In eine Notschlafstelle könne er nicht, er habe nämlich keine Identitätskarte, und ohne Karte sei ihm der Zugang verwehrt, und sein Hund wäre da auch nicht gemocht.

«Das stimmt nicht», widerspricht Eliane Belser, Leiterin der Nothilfe der Stadt Lausanne. Jede und jeder Obdachlose habe das Recht auf einen kostenlosen Schlafplatz und müsse auch seine Identität nicht offenlegen, so Belser. Setze die Stadt die Massnahmen in Kraft, hebe sie alle Schranken und Hürden auf. Es sei nicht einmal eine vorgängige Reservation des Schlafplatzes nötig, wie man dies an normalen Tagen verlange. Das Angebot wird genutzt. Zwischen 260 und 275 Personen schlafen momentan in den Unterkünften. Noch gibt es also freie Plätze.

Wegen der Kälte hält die Stadt Lausanne den Treffpunkt L’Espace zurzeit auch tagsüber geöffnet. Diese Massnahme gehört zum Plan «Grand Froid».

Gemäss Studien leben in der 150’000-Einwohner-Stadt Lausanne zwischen 220 und 270 Obdachlose, darunter sind auch einzelne Familien mit Kleinkindern. Diese Zahlen sind gemäss Eliane Belser «stets eine Momentaufnahme», sie können also rasch ändern – in beide Richtungen.

Zu Lausannes «Kälteplan» gehört auch, dass sich Obdachlose praktisch durchgehend an einem beheizten Ort der Stadt aufhalten können. L’Espace (der Raum) heisst der Aufenthaltsraum mitten im Stadtzentrum, wo es an 365 Tagen warme Abendessen gibt und an vier Tagen pro Woche auch Mittagessen. Diese Woche ist er kältebedingt tagsüber durchgehend geöffnet – und gut besucht.

Lausanne, le 17 novembre 2023, Des propriétaires de bateaux se plaignent de la présence de SDF qui dorment la nuit dans les hangars du port de Vidy. ©Florian Cella/24H

Am Dienstagnachmittag sind auch Julien Casentini und Youssef Khairi da. Beide verbringen ihre Nächte in Unterkünften für Obdachlose, beide leiden an Lungenkrankheiten, und beide betonen, der warme Ort schütze sie vor massiven Gesundheitsproblemen. Er habe eine chronische Bronchitis und müsse regelmässig ins Spital, sagt Casentini. Bei ihm habe man im Unispital Tuberkulose diagnostiziert, erzählt Khairi. Das sei auch der Grund, warum er noch in der Schweiz und noch nicht ausgewiesen worden sei, so der Marokkaner. Er sei vor acht Monaten in die Schweiz eingereist und habe zunächst auf der Strasse gelebt. Wegen einer fehlenden Aufenthaltsbewilligung landete er im Gefängnis. Aufgrund einer Lungenentzündung musste er schliesslich im Spital und bekam die Tuberkulosediagnose. «In dieser Kälte kann ich nicht draussen bleiben», sagt der 24-jährige Marokkaner. Casentini ebenfalls nicht. Er verrät: «An kalten Tagen fliehe ich oft in Bibliotheken und lese ein Buch nach dem anderen.»

Doch längst nicht alle Lausanner Obdachlosen suchen von sich aus warme Orte auf. Es gibt solche wie der Mann in der Rue de Bourg, die weiter draussen leben und schlafen und sich damit in Lebensgefahr bringen. 

Aufruf an Bürgerinnen und Bürger

Tritt der Notplan in Kraft, sind Bürgerinnen und Bürger angehalten, über eine Sammelnummer die mobilen Notfallteams des Zentrums für Allgemeinmedizin und Gesundheitswesen der Universität Lausanne zu kontaktieren, wenn sie einen im Freien schlafenden Obdachlosen entdecken. In solchen Fällen rückt auch Anna Laget, Krankenschwester und Leiterin einer Nothelferequipe, aus. «Unsere Teams haben in den letzten Tagen wiederholt Leute zu Notschlafstellen begleitet», sagt sie. Rund ein Dutzend Leute würden derzeit die Nächte draussen verbringen, so Lagets Schätzung. Die Gründe dafür seien verschieden. Die einen wollten ihre Autonomie bewahren oder die Intimsphäre schützen. Andere hätten psychische Probleme und befürchteten Konflikte mit Mitmenschen. 

«In solchen Fällen schauen wir, wie die Betroffenen gekleidet und zugedeckt sind, ob sie etwas Warmes gegessen haben und ob sie unter freiem Himmel liegen oder durch ein Dach oder anderes Isolationsmaterial wie Holz zumindest halbwegs geschützt sind», sagt Laget. Man messe auch die Körpertemperatur. Stelle man eine Unterkühlung fest, sind Notschlafstellen keine Option mehr. «Dann rufen wir den medizinischen Notfalldienst und überführen Betroffene je nach Einschätzung der Notfallärztin oder des Notfallarztes auch direkt ins Spital.»

Vorerst läuft der Plan «Grand Froid» in Lausanne weiter. Doch schon in der kommenden Woche dürften die Temperaturen auch nachts wieder über die Null-Grad-Grenze steigen und die Schutzmassnahmen damit enden.