Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Engpass ohne Kernkraftwerke
Wer soll im Winter den Strom liefern?

Der Verband Schweizerischer Stromunternehmen (VSE) wünscht sich, dass mindestens 80 Prozent des Landesverbrauchs im Winter durch Eigenproduktion gedeckt wird.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Die Sorge wächst, wie die Schweiz künftig im Winter ohne Kernkraftwerke eine sichere Stromversorgung garantieren kann. In der Politik sind die möglichen Stromengpässe während der Wintermonate seit langem ein Thema. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom), die Hüterin über die Schweizer Stromversorgung, hat Ende Februar in einem neuen Grundlagenpapier gefordert, verbindliche Ziele für die Winterproduktion gesetzlich zu verankern. Der Bundesrat dagegen bleibt ziemlich vage. Eine spezielle Förderung der Winterproduktion mit konkreten Zielen sieht er nicht vor. Das zeigt seine Vorlage zum revidierten Energiegesetz, die er am 3. April in die Vernehmlassung geschickt hat.

Die Solarbranche ist darüber verwundert. Sie hätte vom Bundesrat konkrete Pläne erwartet, «gerade nach der Ermahnung der Elcom», sagt David Stickelberger, Geschäftsleiter des Branchenverbands Swissolar. Die Elektrizitätskommission fordert, die Schweiz solle bis 2035 ihre Stromproduktion für das Winterhalbjahr um mindestens fünf, besser aber bis zehn Terawattstunden verbindlich ausbauen. Das entspricht etwa 40 bis 80 Prozent der Strommenge, die im Winter wegfallen wird, wenn die Schweiz wie geplant aus der Kernkraft aussteigt.

«Der Bundesrat scheint aber weiterhin eher auf Importe zu setzen, was uns gefährlich erscheint.» Stickelberger verweist auf die Corona-Krise und die aktuellen Versorgungsprobleme mit wichtigen medizinischen Gütern, die nicht in der Schweiz hergestellt werden und abhängig macht. Die Elcom geht davon aus, dass die Nachbarländer in Zukunft im Winter vermehrt auf ihre inländische Stromproduktion zugreifen und den Export reduzieren.

Für den Verband Schweizerischer Stromunternehmen (VSE) muss deshalb das Ziel sein, dass mindestens 80 Prozent des Landesverbrauchs im Winter durch Eigenproduktion gedeckt wird. So wie dies – ausser in der Saison 2016/17 – immer der Fall gewesen sei, freilich mit dem Einsatz der Atomkraftwerke und ohne den zusätzlichen Strombedarf, der durch die fortschreitende Elektrifizierung der Mobilität und Energieversorgung durch Wärmepumpen in Zukunft anfallen wird. Für den Verband sind die Pläne des Bundesrats ein positiver Schritt in diese Richtung. «Wir begrüssen, dass der Bundesrat einen stärkeren Fokus auf den Ausbau der Winterproduktion legt», sagt VSE-Direktor Michael Frank. Dies sei bis anhin nicht so gewesen.

Die Schweiz verbraucht etwa 55 Prozent der jährlichen Stromproduktion in der kalten Jahreszeit. Lässt sich ohne nuklearen Strom so viel Energie durch erneuerbare Quellen produzieren? «Grundsätzlich ist es machbar, den Winterstrom durch einheimische erneuerbare Energie zu decken», sagt Jürg Rohrer, Leiter der Forschungsgruppe Erneuerbare Energien an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil. Es gibt inzwischen zahlreiche Studien darüber, wie gross das Potenzial zum Beispiel von Fotovoltaik in der Schweiz ist. Auch Rohrer hat Berechnungen angestellt und denkt, dass der Bund grundsätzlich von zu hohen Zahlen ausgeht. «Aber wie gross auch immer das Potenzial ist, es braucht vermutlich eine hundertprozentige Ausschöpfung der Potenziale aller erneuerbarer Energiequellen, damit sich die Schweiz selber mit Strom versorgen kann», sagt er.

«Den Menschen ist zu wenig bewusst, wie wichtig die Windkraft in der Schweiz ist.»

Jürg Rohrer, Energieexperte Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Die wichtigsten Stromquellen für den Winter sieht Rohrer in den Speicher- und Pumpspeicherkraftwerken, der Fotovoltaik – und vor allem in der Windenergie. «Den Menschen ist zu wenig bewusst, wie wichtig die Windkraft in der Schweiz ist», sagt er. Den grössten Teil der Stromproduktion liefern Windkraftanlagen im Winter. Die anfänglich hohen Erwartungen in die Windenergie wurden in den letzten Jahren jedoch gedämpft. Zu viele Projekte scheiterten an Einsprachen. Der Bund spricht mittlerweile denn auch vor allem vom grossen Potenzial der Solarkraft. Nun aber scheinen die Windkraftbefürworter wieder zu erwachen. Sie sehen sich als einen wichtigen Partner, wenn es um die Produktion von Winterstrom im eigenen Land geht.

15 Jahre für Bewilligung

Die Vereinigung zur Förderung der Windenergie in der Schweiz (Suisse Eole) fordert deshalb, dass der Bund im neuen Energiegesetz Windparks, die zwei Drittel ihrer Produktion im Winter liefern, zusätzlich zu den grossen Speicherkraftwerken als «prioritär» für die Winterstromversorgung einstuft. Suisse Eole ist überzeugt, dass die Windenergie 20 Prozent des Winterstroms decken kann. Die Potenziale der Energiestrategie 2050 stammen aus dem Jahr 2010, beim Wind sind es 4 Terawattstunden. «Die Technik hat sich weiterentwickelt, die Leistung der heutigen Windanlagen ist dreimal grösser», sagt Lionel Perret, Geschäftsleiter bei Suisse Eole. «Der Wind könnte bis 2050 9 Terawattstunden liefern.» Mindestens zwei Drittel davon fliessen im Winter.

Es befinden sich gemäss Suisse Eole 15 Windparks im Bewilligungsverfahren und 55 weitere in Planung, die zusammen bis 2035 3 Terawattstunden Strom liefern könnten. Doch die Erfahrung zeigt, dass Planung noch nicht Realisierung heisst. «Es kann nicht sein, dass Bewilligungsverfahren für Windenergieprojekte 15 Jahre dauern», sagt Lionel Perret. Heute können über drei gerichtliche Instanzen Einsprachen gemacht werden. «Für jede Instanz verliert man mindestens drei Jahre», sagt Perret. Und erst bei der letzten, dem Bundesgericht, fliessen staatliche Gutachten vom Bundesamt für Umwelt oder vom Bundesamt für Energie ein. «Das macht keinen Sinn», sagt Perret.

Der Bundesrat hatte als Zwischenziel eine jährliche Stromproduktion von 600 Gigawattstunden Windstrom bis 2020 festgelegt. Heute fliesst aus Windanlagen etwa 146 Gigawattstunden Strom (Stand 2019). Die grössten Verhinderer sieht Perret in der Stiftung für Landschaftsschutz und Helvetia Nostra. «Mit dem WWF und Pro Natura lässt sich meistens eine Lösung finden.» Suisse Eole hofft auf ein Postulat im Parlament, das effizientere und kürzere Verfahren verlangt. Eine Möglichkeit wäre, dass Einsprachen direkt beim Bundesgericht eingereicht würden. So könnten die Verfahren massiv verkürzt werden.

Wasserkraft ausbaubar

Auch die Wasserkraft ist laut Jürg Rohrer noch ausbaufähig. Ein bis zwei Terawattstunden liessen sich durchaus gewinnen – zum Beispiel durch die Erhöhung der Staumauern. Als vielversprechend gilt zudem das Potenzial von Gletscherseen, wie dem Triftsee im Kanton Bern, wo denn auch bereits ein Staudamm geplant ist. Der Branchenverband Swissolar rechnet so mit einer zusätzlichen Winterstromproduktion von 2 Terawattstunden. Nur mit dem Ausbau ist es jedoch nicht getan. Für Rohrer müssen die Betreiber ihr Marktverhalten ändern: «Sie betreiben heute die Speicherkraftwerke marktwirtschaftlich, in Zukunft sollte der Strom jedoch so verkauft werden, dass es für die Versorgung das Beste ist.»

Was mit Stromüberschuss?

Als weitere Lösung wird immer wieder die chemische Speicherung von Energie ins Spiel gebracht. «In Zukunft wird auch «Power-to-X» eine immer stärkere Rolle spielen», sagt Stickelberger von Swissolar. Gemeint sind damit verschiedene Technologien, die es ermöglichen, überschüssigen Sommerstrom aus Produktionsspitzen – vor allem Fotovoltaik – in gasförmige oder flüssige Energieträger umzuwandeln, um sie dann im Winter wieder rückzuverstromen.

Ob diese Technologie als Stromproduzent jedoch in der Schweiz je rentabel sein wird, ist fraglich. ZHAW-Forscher Rohrer empfiehlt jedenfalls, möglichst wenig auf saisonale Speicherung zu setzen. Seiner Ansicht nach wird der Stromüberschuss im Sommer überschätzt. «Im Winter wird künftig durch den Klimawandel etwa 20 Prozent weniger Strom verbraucht, dafür wird im Sommer wegen der Kühlanlagen der Stromverbrauch um mehr als 20 Prozent ansteigen», sagt Rohrer. Er ist überzeugt, dass die saisonale Speicherung in der Schweiz für die Stromproduktion nie rentabel sein wird, weil die Betriebsstunden zu gering seien.

Massnahmen reichen nicht

Die technischen Potenziale sind das eine. Das andere ist deren Umsetzung in nützlicher Frist. Um die Winterproduktion auszubauen, so schlägt der Verband Schweizerischer Stromunternehmen (VSE) vor, soll der Bund den Beitrag zur Stromproduktion im Winter neu deutlich höher vergüten als jener im Sommer. Für den Wissenschaftler Jürg Rohrer gehen die bundesrätlichen Vorschläge zu wenig weit. «Wenn wir die Potenziale der erneuerbaren Energien, speziell der Fotovoltaik, bis 2050 voll ausschöpfen wollen, reichen finanzielle Anreize nicht aus», sagt er. Es brauche wohl staatliche Auflagen wie damals zurzeit des Kalten Krieges, als fast jeder Hauseigentümer Luftschutzkeller bauen musste.