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Kiewer Autor im Interview
«Wenn Russland diesen Krieg beginnt, wird es auch mein Krieg»

Andrei Kurkow, 2008 am Literaturfestival Leukerbad.
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Herr Kurkow, sind Sie gerade in Kiew?

Ja, mittendrin.

Briefe gingen hin und her: Russland forderte von der Nato, die Ukraine niemals aufzunehmen und sich aus den ehemaligen Sowjettrabanten zurückzuziehen. Die USA und die Nato haben abgelehnt. Gut?

Die Sache mit den Briefen ist nur ein strategisches Spiel – dessen Regeln in Moskau gemacht wurden. Der Briefwechsel ist sehr seltsam. Ich vermute, dass Joe Biden und seine Administration sich nicht hatten vorstellen können, wie politisch krank Russland mittlerweile ist.

Politisch krank?

Wladimir Putin ist sehr machtgierig und denkt territorial. Gleichzeitig hat Russland grosse wirtschaftliche Probleme. Die illegitime Annexion der Krim mit der Fake-Volksabstimmung war zum Beispiel ein Verlustgeschäft: Es muss ständig Geld hineingepumpt werden. Dort funktioniert nichts, nicht die Banken, nicht das Telefonnetz; und es gibt keine Investitionen. Die Sanktionen des Westens wirken abschreckend. Und auch die Leute in der Ostukraine leben unter schlechten Bedingungen; die einst so verheissungsvolle Region ist ruiniert. Zugleich weiss jeder, dass die Ukraine sowieso nicht in die Nato eintritt. Für mich ist das darum alles bloss propagandistisches Säbelrasseln von Putin.

Wieso ist die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine unmöglich?

Wir sind militärisch noch lange nicht so weit. Und es mangelt bei uns am Respekt für Gesetze und Regeln, sodass wir als Resultat oft Anarchie statt Demokratie haben. Unsere Justiz schliesslich ist sehr korrupt und häufig politisch abhängig. Erst müssen wir uns selbst reformieren, dann in die EU eintreten und erst danach in die Nato. Das wird dauern.

Bis dann könnte Russland die Ukraine an sich reissen. Der Aufmarsch seiner Truppen an der Grenze ist bedrohlich.

Tatsächlich hat Russland im Donbass schon Hunderttausende russischer Pässe an die Bevölkerung verteilt. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass sich die Bevölkerung insgesamt spalten lässt; die Sowjetmentalität ist passé. Und Russland hat nicht die Kraft für eine langfristige Besetzung.

Der Staat hat Freiwilligengruppen organisiert, die Kampfeinsätze und medizinische Einsätze trainieren – und viele machen mit.

Haben Sie keine Angst vor einem Krieg?

Nein. Meine Tochter lebt in London, meine Söhne leben auch hier in Kiew, und wir haben unser Landhaus 90 Kilometer westlich von Kiew für alle Eventualitäten vorbereitet. Alle in Kiew bereiten sich vor: die Schulen, die Botschaften, die Läden … Aber es herrscht keine Panik.

Glauben Sie an Unterstützung aus dem Ausland?

Deutschland hat uns sehr enttäuscht: 5000 Helme und Materialien für ein Lazarett, mehr nicht – das ist ein Armutszeugnis. Dass man für die Gasleitung Nord Stream 2 alles mit Füssen tritt, ist traurig. Vermutlich wird kein einziger ausländischer Soldat ukrainischen Boden betreten. Aber immerhin haben wir aus Grossbritannien und den USA viele moderne Waffen erhalten. Und vielleicht können die Verhandlungen in der Normandie-Formation den Krieg wenigstens zeitlich verschieben.

Die Kiewer Bevölkerung trainiert für den Widerstand gegen eine russische Invasion.

Sie klingen erstaunlich gelassen.

Der Geist des Maidan, der Protestbewegung von 2013/14, ist nicht verschwunden, im Gegenteil. Die Bevölkerung ist nicht korrupt, und die jungen Leute sind sehr europäisch. Sie sind bereit, das Land zu verteidigen. Wir alle sind bereit. Der Staat hat jetzt Freiwilligengruppen organisiert, die Kampfeinsätze und medizinische Einsätze trainieren – und viele machen mit.

Wirklich?

Ich bin sechzig Jahre alt, aber ich lerne gerade privat, zusammen mit einer Gruppe von Freunden, notfallmedizinische Basics, damit ich Verwundeten helfen kann. Ich bleibe in Kiew, komme, was wolle. Eine Kapitulation der Ukraine kommt für mich nicht infrage. Und wenn Russland diesen Krieg beginnt, wird es auch mein Krieg.