Russische Journalisten in Gefahr«Wenn mich das Regime zerstören will, nehme ich das hin – ich stehe auf der richtigen Seite»
Sie riskieren ihr Leben, schreiben aus Moskau und aus dem Exil für die «Novaya Gazeta Europe» gegen den Ukraine-Krieg an. Jetzt erhalten sie dringende finanzielle Hilfe aus der Schweiz.
Anfang März wurde der Moskauer Boden für Kirill Martinow zu heiss. Immer mehr Polizei habe in den Strassen patrouilliert, erzählt der russische Journalist. Mobiltelefone seien geprüft, Menschen willkürlich verhaftet worden: «Als ob plötzlich eine fremde Armee die Stadt kontrollierte.»
Also floh Martinow in das benachbarte Lettland. Von der Hauptstadt Riga aus leitet er heute die «Novaya Gazeta Europe», die unabhängige Berichte über Russland und den Krieg in der Ukraine bietet.
Das Regime erpresst sie
In Russland selbst gibt es die «Nowaja Gazeta» nicht mehr. Nach 30 Erscheinungsjahren musste die von Nobelpreisträger Dmitri Muratow gegründete Zeitung im März ihr Erscheinen einstellen. Bis zu diesem Zeitpunkt lasen täglich bis zu drei Millionen Russinnen und Russen online die unabhängigen Berichte. Muratow und sein Team arbeiteten nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine 32 Tage lang weiter, bis sie wegen mehrfacher Verwarnung durch die staatliche Medienaufsicht aufgeben mussten.
«Die Journalisten sind ständig in Gefahr, dass sie durch das ausgeklügelte Videoüberwachungssystem in den Moskauer Strassen erkannt werden.»
Bei der «Novaya Gazeta Europe» aus Riga ist Gründer Muratow nicht mehr dabei. Er lebt weiterhin in Moskau. Von den rund 55 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verliessen 30 Leute das Land, darunter Chefredaktor Kirill Martinow. Andere blieben in Russland und arbeiten dort weiter, gleichsam aus dem Untergrund, ständig in Gefahr, dass sie durch das ausgeklügelte Videoüberwachungssystem in den Moskauer Strassen erkannt werden und in die Fänge der Polizei geraten, wie Martinow im Gespräch mit dieser Zeitung berichtet.
Das Regime in Moskau würde sie zudem erpressen, sagt er. Die Regierung habe ein Gesetz erlassen, das ihr erlaube, sie nicht nur als ausländische Agenten zu bezeichnen, sondern auch Ermittlungen gegen ihre Freunde und Verwandten einzuleiten. «Das ist sehr beängstigend. Und es ist für uns ein ethisches Dilemma. Das Regime bietet uns an, wir sollten unsere journalistische Arbeit stoppen und unsere Überzeugungen vergessen. Sonst müssten wir damit leben, dass Menschen, die uns wichtig sind, in Gefahr geraten», sagt der Chefredaktor.
Anschlag als Warnung für alle
Was dies bedeuten kann, spürte Zeitungsgründer Dmitri Muratow kürzlich am eigenen Leib. Beim Einsteigen in einen Zug in Moskau wurde er am 7. April mit einer mit roter Farbe versetzten Säure übergossen. Nur durch Glück trug er keine dauerhaften Verletzungen davon. Auf dem Nachrichtenkanal Telegram posteten angebliche russische Fallschirmjäger kurz danach ein Video des Anschlags und die Begründung: Muratow und seine Zeitung seien mit ihrer Berichterstattung über den Ukraine-Krieg den russischen Streitkräften in den Rücken gefallen.
Die Tätigkeit für das bekannteste und grösste regierungskritische Medium war immer schon lebensgefährlich. Seit der Machtübernahme durch Wladimir Putin im Jahr 2000 wurden sechs Journalistinnen und Journalisten der «Nowaja Gazeta» getötet.
«Als mein Land in die Ukraine einfiel, sah ich das Regime als eine Bande von Kriegsverbrechern.»
Natürlich habe er Angst um die Kolleginnen und Kollegen, die immer noch in Moskau seien, sagt Chefredaktor Martinow. Er selbst fühle sich in Riga noch sehr sicher: «Niemand will mich hier um 4 Uhr in der Früh abholen. Und ich muss mich nicht fürchten, wenn ich die Polizei rufe.» Und selbst wenn es zu einem Anschlag kommen sollte, meint er: «Als mein Land in die Ukraine einfiel, sah ich das Regime als eine Bande von Kriegsverbrechern. Wenn also Kriegsverbrecher mich zerstören wollen, dann nehme ich das so hin, denn ich fühle mich auf der richtigen Seite.»
Jetzt kommt Hilfe aus der Schweiz
Martinow hat nun ein ganz anderes Problem. Weil die Inhalte von «Novaya Gazeta Europe» im Netz frei zugänglich sind und es kaum Werbung gibt, hat die europäische Ausgabe der Onlinezeitung ein ziemlich grosses Finanzierungsproblem.
In dieser Situation kommt nun Hilfe aus der Schweiz. In Schaffhausen ist die europaweit erste Unterstützergruppe gegründet worden: der Verein «Friends of Novaya Gazeta Europe». Vereinspräsident ist der Chefredaktor des Magazins «Computerworld», der 45-jährige Daniel Thüler. Er ist verheiratet mit der russischen Journalistin Ekaterina Glikman, die als stellvertretende Chefredaktorin für die «Novaya Gazeta Europe» arbeitet und vor ein paar Tagen den Journalistenpreis von Pro Litteris erhielt. «Wir sammeln nicht nur Geld. Wir möchten auch ein Netzwerk in Westeuropa aufbauen, um die Zeitung zu unterstützen», sagt Thüler.
Am Montagabend wurde bei einer Auktion in New York Muratows Nobelpreis-Auszeichnung versteigert. Sie wechselte für 103 Millionen Dollar den Besitzer. Mit dem Geld sollen geflüchtete ukrainische Kinder unterstützt werden.
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