Albergo Diffuso im MuggiotalWenn ein Bergdorf zum Hotel wird
Scudellate ist als kleines Bergdorf im südlichsten Tessin vom Aussterben bedroht. Dem soll ein auf verschiedene Häuser verteiltes Hotel Abhilfe verschaffen.
Wer vor den Massen fliehen will und die Natur liebt, findet im zweithintersten Dorf im Muggiotal einen neuen Zufluchtsort. Im malerischen Scudellate am Fusse des Monte Generoso betreiben Oscar Piffaretti und Simona Recalcati seit Juni 2021 das Albergo Diffuso. Dreh- und Angelpunkt des Hotels, welches über mehrere Gebäude verteilt ist, bildet die renovierte Osteria Manciana, welche seit 90 Jahren im Besitz der Familie Piffaretti ist.
Die Geschäftsführer des Albergo Diffuso del Monte Generoso SA, Oscar Piffaretti und Claudio Zanini, haben ihre Kindheit gemeinsam im südlichsten Tal der Schweiz verbracht. «Irgendwann kamen wir während unserer Karriere im Finanzbereich an den Punkt, an dem wir uns fragten: Was wollen wir eigentlich mit dem Rest unseres Lebens machen?», berichtet Oscar Piffaretti. «Wir haben uns für etwas Sinnstiftendes mit mehr Lebensqualität entschieden.» Während der Pandemie hat sich gezeigt, dass die Menschen Ruhe, Natur und Abgeschiedenheit suchen. Scudellate auf 900 Metern über Meer ist ein guter Ausgangspunkt, um die Gegend um den Monte Generoso zu Fuss zu erkunden. Die Flora und Fauna rund um das ehemalige Schmugglerdorf ist sehr vielseitig.
Da Oscar Piffarettis Frau Simona Recalcati 30 Jahre lang ein Restaurant in Chiasso führte, entwickelte sich rasch der Plan, den Tourismus im südlichsten Tal der Schweiz mit einem Albergo Diffuso zu fördern. «Mit unserem Projekt wollen wir Einheimische und junge Familien ins Muggiotal zurückholen», so der 51-Jährige.
Garten und Rebberg erweitern Angebot
In einem ersten Schritt renovierten sie nicht nur die Osteria Manciana komplett, sondern funktionierten auch die darüber liegenden Räume in zwei grosszügige Gästezimmer um. Der oberste Stock kann ab drei Nächten als Wohnung gemietet werden. In einem ebenfalls komplett umgebauten Nebengebäude befindet sich nun eine Suite mit grossem Balkon und traumhafter Sicht ins Tal. Von Beginn an waren laut den Gastgebern diese Zimmer meist von Deutschschweizern gut gebucht. Alle Beherbergungsangebote können mit Frühstück oder Halbpension gebucht werden.
Zusätzlich zum 35-plätzigen Restaurant mit zwei Terrassen und kleiner Bar befindet sich im Erdgeschoss der Osteria wie in alten Zeiten eine kleine Bottega, welche Spezialitäten aus der Umgebung verkauft. Koch Fabio Farina verwöhnt die Gäste mit Tessiner Spezialitäten nach alten Familienrezepten wie Polenta mit Ossobuco oder Minestrone. Die Osteria ist besonders am Wochenende ein beliebter Treffpunkt. Durstige Wanderer nehmen ein Bier, Einheimische treffen sich zu einem Schwatz, und die Hotelgäste erfreuen sich an den regionalen Speisen und Weinen.
Simona Recalcati weiss nach 30 Jahren im Gastgewerbe, was zufriedene Gäste wünschen, und liest ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Oscar Piffaretti, der unter der Woche in seiner Firma für erneuerbare Energien in Chiasso arbeitet, kümmert sich am Wochenende von früh bis spät um die Gäste. Hält hier einen Schwatz, gibt dort einen Ausflugstipp – er ist ein geborener Gastgeber. Und er freut sich auf eigenen Wein: Dieser Tage werden in den neu errichteten Terrassen unterhalb des Hauses Rebstöcke der pilzresistenten Sorte Divona angepflanzt. Somit können die Gastgeber in ihrer Osteria in drei Jahren eigenen Weisswein anbieten. Rund 800 Flaschen jährlich soll der kleine Rebberg hergeben. Zudem wird ein Gemüsegarten angelegt.
Insgesamt werden fünf Millionen Franken ins Albergo Diffuso investiert. Mit finanzieller Unterstützung der Berghilfe und des Kantons liessen die Tessiner in einem zweiten Schritt das ehemalige Schulhaus im Dorf in ein Ostello, eine Art edle Jugendherberge, umbauen. Dieses ist ausgestattet mit 22 Schlafplätzen in vier hellen, modernen Zimmern, einem grosszügigen Aufenthaltsraum, einer grossen Terrasse, zwei Waschmaschinen sowie E-Bike-Ladestation. Die Speisen werden vom Koch der Osteria zubereitet. Das Ostello ist bei Schulen beliebt und entsprechend gut gebucht.
Berghütte und Bed and Breakfast kommen hinzu
Während das Dorf vor rund 40 Jahren noch von 150 Menschen belebt wurde, wohnen nun noch 15 Personen älteren Semesters in Scudellate. Die Hälfte der Häuser wird nur in den Sommermonaten oder über die Wochenenden benutzt, viele stehen zum Verkauf. Deshalb bietet Oscar Piffarettis Firma interessierten Hausbesitzern im Dorf neu an, ihre Häuser über seine Firma zu vermieten. Derzeit beschäftigt er vier Mitarbeiter aus dem Tal zu 100 Prozent, zwei zu 50 sowie zwei im Stundenlohn. Bald kommen weitere dazu. Denn das Albergo Diffuso wird um weitere sechs Zimmer im gehobenen Bed and Breakfast Forestiere erweitert. Derzeit wird das alte Haus am anderen Ende des Dorfs umgebaut. Ab November 2022 können Zimmer gebucht werden.
Eine weitere Übernachtungsmöglichkeit kommt 2024 dazu. Dann wird die Berghütte auf der Alp Caviano fertig umgebaut sein. Die Alp ist in zwei Stunden Fussmarsch ab Scudellate erreichbar und wird von einem Hüttenwart betrieben. «Die Berghütte verfügt über einen grossen Saal, welcher sich ideal als Yoga-Studio anbietet», sagt Oscar Piffaretti. Bereits heute ermöglicht er seinen Gästen Bike-’n’-Wine-Touren, Kochkurse und Besuche bei einheimischen Käsern an. Bald sollen Einheimische die Gäste in Scudellate mit Töpferkursen, Konzerten und Meditation unterhalten.
Damit sich der Verkehr im Naturparadies Muggiotal durch die neue touristische Infrastruktur nicht markant erhöht, transportieren die Mitarbeiter des Albergo Diffuso die benötigten Produkte jeweils auf ihrem Arbeitsweg zur Osteria hoch. Weiter ist geplant, möglichst viele Gäste mit einem Elektro-Shuttle unten im Tal abzuholen. Parkplätze sind Mangelware im kleinen Bergdorf.
Weitere Informationen: osteria-manciana.ch
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