Polemik zu WeihnachtsliedernOhne Groove, ohne Rhythmus: «Stille Nacht» hat den Charme eines Schleifbohrers
Gemeinsames Singen ist etwas vom Schönsten überhaupt. Bloss sind unsere Weihnachtsklassiker eine musikalische Zumutung.
O du fröhliche Vorfreude! Der Christbaum ist geschmückt, der Braten im Ofen, die Gäste lauern aufs zweite Glas und die Kinder auf die Geschenke. Doch wie jedes Jahr gilt es auch diesmal, zwischen Zeremonie und Bescherung eine letzte Hürde zu nehmen. Und es ist eine grosse Hürde. Es wird gesungen.
Gemeinsam zu singen – eigentlich gibt es nichts Schöneres. Selbst wenn der Onkel nur brummelt, die Schwester die hohen Töne nicht trifft und die Mutter immer noch die Seite mit dem Text sucht. Eigentlich. Wären da nur nicht diese Lieder.
Ehrlich, die deutschsprachigen Weihnachtsklassiker sind musikalische Heimsuchungen: «O du fröhliche», «Stille Nacht», «Ihr Kinderlein kommet» – diese Melodien sägen sich ins Gehirn wie das Geräusch eines Schleifbohrers.
Der Absturz kommt bei «alles schläft»
Glücklich darf sich schätzen, wer in diesem musikalischen Jammertal von einem Instrumentalisten begleitet wird – vorzugsweise einer forschen Pianistin, die die Akkorde nachdrücklich genug ins Instrument hämmert, sodass die gesanglichen Schwächen niedergewalzt werden.
Solche Begleitung hat allerdings wieder eigene Tücken. Denn die Notenschlüssel in den klassischen Gesangbüchern sind vor allem auf Sopranstimmen zugeschnitten. Der Absturz kommt deshalb spätestens dann, wenn sich die Melodie bei «alles schläft» oder «himmlischer Ruu-uh» in gloriose Höhen aufschwingt, in Ermangelung ausgebildeter Singstimmen dann aber im bereits erwähnten Schleifbohrerbereich landet.
Es ist ein bis heute ungelöstes Rätsel, warum die hiesigen Kirchen auf solche Lieder setzen: ohne Groove, ohne Rhythmus, nicht einmal die klitzekleinste Synkope ist da zu finden. Stattdessen dröge Melodien, die statisch hochstolpern, um dann im Viervierteltakt wieder die Tonleiter runterzupoltern.
Ganz zu schweigen übrigens von den Texten. Eigentlich geht es ja um ein freudiges Ereignis, die Geburt Jesu. Aber statt zu jubeln und zu feiern, ermahnen uns die Lieder zur Ruhe und Andacht. Bloss nicht zu ausgelassen jetzt! Man kann sich auch fragen, warum Gott und Jesus Christus sich von so was geehrt fühlen sollen.
Und es geht ja auch anders. Man braucht nur kurz in Gospelklassiker wie «Go Tell It on the Mountain», «Oh Happy Day» oder «Kumbaya, My Lord» reinzuhören, um zu sehen, dass das auch bedeutend lüpfiger geht. Oder in «Jingle Bells», auch wenn das ursprünglich gar kein Weihnachtslied war.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Zur Verifizierung der These empfiehlt sich auch ein Blick auf die nach wie vor in Lauerstellung wartenden Kinder. Wenn sich die Weihnachtsgesellschaft im Liedprogramm nämlich endlich zu «Jingle Bells» vorgekämpft hat, lässt selbst der Nachwuchs seine Beute kurz aus den Augen, um die Melodie mitzuschmettern.
«Wo man singt, da lass dich ruhig nieder», heisst es in einem alten Volkslied. Und es stimmt, was gibt es Schöneres, als gemeinsam zu singen? Vielleicht sollte man mit Blick auf Weihnachten aber noch ergänzen: «Und liebe Christen, besorgt euch endlich tolle Lieder.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.