Nach Tokio 2021Was von den seltsamsten Spielen übrig bleibt
Olympia war anders als früher – mit Abstand, wortwörtlich. Doch wäre es denn besser gewesen, die Sommerspiele hätten nicht stattgefunden? Ein Wiederbesuch in Japan.
Takayoshi Kim weiss noch genau, was er dachte, als sie im Tatsumi-no-Mori-Beachpark die Schwimmhalle der Sommerspiele 2020 bauten. «Eine Verschwendung ist das, habe ich mir gedacht», sagt er und lacht. Er wohnt in der Nachbarschaft zwischen Hafen, Autobahnbrücken und Grün. Der Stadtteil Tatsumi im Tokioter Bezirk Koto ist eine seltsame Mischung aus Idylle und Verkehrsrauschen, aber Takayoshi Kim, ein blondierter Pudelbesitzer in Flip-Flops und Stoffhose, ist vergnügt genug, um vor allem das Gute in diesem Widerspruch zu sehen.
Mit dem Tokyo Aquatics Center, das im Hintergrund wie ein riesiger dunkler Fremdkörper aufragt, hat er sich längst angefreundet. Er hat die Spiele im Fernsehen gesehen, «weil wir ja selbst nicht hingehen konnten», und fand sie auch für sein Geschäft einen Vorteil. Kim ist Taxifahrer. Er habe Teilnehmer und Mitarbeiter des Ereignisses gefahren. Er kann nicht mehr meckern. «Im Ergebnis war es gut, dass die Spiele da waren.»
Tokio im Winter nach den pandemischen Sommerspielen. Was war? Was bleibt? Ein Jahr länger als geplant war die Metropole mit den olympischen und paralympischen Symbolen geschmückt. Gehörten mächtige Stahlrohrtribünen zum Stadtbild, auf denen am Ende kaum jemand sitzen durfte. Plagten sich Japans Menschen nach der Verschiebung von 2020 auf 2021 mit einem Fest herum, das wegen des Coronavirus eigentlich nicht zu ihrem Sicherheitsanspruch passte.
Jetzt laufen die letzten Aufräumarbeiten. Die mächtige Infektionswelle, die Japan während der Spiele erlebte, ist abgeebbt. Die Notstandserklärung ist schon seit Ende September aufgehoben. Die Infektionszahlen sind niedrig. Knapp 80 Prozent der 126 Millionen Japanerinnen und Japaner sind vollständig geimpft. Alle tragen weiterhin überall ihre Masken. Und man hat das Gefühl, die Mehrheit will nach dem ganzen vorolympischen Streit, den ablehnenden Umfragen und scharfen Expertenwarnungen nicht mehr lange nachbohren. Sondern abhaken, was war, und friedlich nach vorne schauen.
«Die Spiele unter diesen Umständen zu liefern, ist ein Vermächtnis für sich selbst.»
Neulich wurden am Rathaus die «Tokyo2020»-Schilder abgenommen. Die provisorischen Stadien sind verschwunden. Neben der Schwimmhalle in Tatsumi, wo vor wenigen Monaten noch Busse vorfuhren und Arbeitscontainer aufgereiht waren, graben Bagger den Boden um. Was da gemacht werde? «Koen», antwortet ein alter Sicherheitsmann knapp, «Park». Der Tatsumi-no-Mori-Beachpark bekommt wieder einen Teil seines Grüns zurück. Tatsumi-Bewohner Kim ist nicht der einzige Tokio-Bürger, der die Spiele im Nachhinein gar nicht so schlimm findet. Als Toshiro Muto, der Geschäftsführer des Organisationskomitees Tocog, vor Weihnachten ein Fazit zog, das natürlich positiv ausfiel, gab es kaum Gegenreden.
Toshiro Muto, 78, einst Finanzbeamter und Vizechef der japanischen Zentralbank, war in allen Phasen der Spieleempörung so etwas wie ein Fels in der Brandung. Er wirkte auf eine sanfte Art unbeirrbar. Und so ist es auch bei seiner Pressekonferenz nach der Tocog-Vorstandssitzung in den jungen Hochhauswäldern von Harumi, nicht weit vom olympischen Dorf entfernt. Die Spiele zu veranstalten, würde doch nicht so viel kosten, wie nach der Verschiebung geschätzt, meldet er. 13,6 Milliarden Dollar statt 15,4 Milliarden. Sparsamkeit und der Umstand, dass keine Zuschauer erlaubt waren, hätten Wirkung gezeigt. «Das ist ein Beweis für unsere Sorgfalt», sagt Muto, «ich glaube, darauf können wir stolz sein.» Was von den Spielen bleibt? «Die Tatsache, dass wir die Spiele unter diesen schwierigen Umständen geliefert haben, ist ein Vermächtnis für sich selbst.»
Die TV-Partner sind zufrieden
So etwas wie die 2020-Sommerspiele von 2021 in Tokio hat es noch nie gegeben. Die Verschiebung war ein merkwürdiger Kraftakt. Sie schon ein Jahr später durchzuziehen, erst recht. Statt um Sportlerinnen und Sportler drehte sich im Grunde alles um das Coronavirus, damit das Internationale Olympische Komitee und Mitstreiter wie der japanische Marketingkonzern Dentsu ihre Verträge mit Fernsehrechte-Inhabern und Werbepartnern erfüllen konnten. Infektionsschutz war wichtiger als direkte Begegnung und Teilhabe.
Es gab: keine Zuschauer, Ausgehverbote für internationale Journalisten und andere Gäste, Ausladungen für alle, die nicht zwingend kommen mussten, die Bitte an Teilnehmende, das olympische Dorf nach dem Einsatz schnellstmöglich wieder zu verlassen. Ausserdem: durchgängige Maskenpflicht, Sicherheitsabstände, ständige Tests, Trennwände. Es ging nicht anders. Hätten die japanischen Organisatoren die Einschränkungen nicht so konsequent durchgesetzt, wären die Spiele tatsächlich zu der globalen Virenschleuder geworden, die Fachleute und andere Kritiker befürchteten.
Insofern hat Toshiro Muto schon recht: Tokio 2021 hat gezeigt, dass man das grösste Sportfest der Welt gegen alle Bedenken so herunterdimmen kann, dass es wie sein eigener Planet an einer weltweiten Gesundheitskrise vorbeischwebt. Anders gesagt: Olympia gibt auch ohne Freiheit ein formidables Fernsehprogramm ab. Für das IOK mag das beruhigend sein. Für Leute, die die Freiheit schätzen, ist sie eher gruselig. Und dass die Spiele in diesem Sommer wirklich eine gute Idee waren, bestreiten diverse Mediziner weiterhin.
Der Mediziner kritisiert bis heute
Zum Beispiel Masaya Takahashi, Chef des Tachikawa-Sougo-Spitals. Er war immer gegen Olympia. Er ist nicht versöhnt und er will nachtreten. «Als ich gelesen habe, dass die Behörden die Olympischen Spiele als Erfolg bezeichnen, konnte ich nicht aufhören, wütend zu sein», schreibt er auf Anfrage via E-Mail. Er erinnert an die grosse Infektionswelle im August mit täglich über 5000 neuen Corona-Fällen pro Tag, überfordertem Gesundheitssystem und der Vorgabe der Regierung, Covid-19-Patienten sollten grundsätzlich nicht ins Spital. Sein Haus habe jeden Tag Erkrankte ablehnen müssen. «Im August starben in Tokio mehr als 30 Menschen zu Hause, ohne dass sie überhaupt behandelt wurden», schreibt Takahashi.
Auch Naoto Ueyama, Vorsitzender der japanischen Ärztegewerkschaft, findet seine Kritik immer noch richtig. Mitte Mai forderte seine Organisation den damaligen Premierminister Yoshihide Suga schriftlich auf, die Spiele abzusagen wegen des Infektionsrisikos und wegen der Gefahr, dass bei dem Weltsportfest neue mutierte Corona-Stämme entstehen. Eine Übertreibung? Keineswegs, findet Ueyama. «Unsere Arbeit war wichtig.» Sie habe zum Infektionsschutz beigetragen, weil danach Public-Viewing-Vorhaben abgesagt wurden und das Bewusstsein für die Risiken der Sorglosigkeit wieder schärfer war. Ueyama erklärt: «Als die Massnahmen zur Infektionsbekämpfung hätten verstärkt werden müssen, haben die Regierung und die Stadtverwaltung von Tokio es versäumt, geeignete Massnahmen zur Verhinderung von Infektionen zu ergreifen, weil sie öffentlich mitteilten, die Olympischen Spiele seien sicher und geschützt.»
«Die Zahl der Todesfälle wäre ohne die Spiele deutlich niedriger gewesen.»
Die Medien hätten seinerzeit auch mehr über japanische Medaillengewinne berichtet als über die neue Nachlässigkeit. Für Ueyama sind das die Gründe für Japans Rekord-Infektionswelle während der Spiele: «Es ist unmöglich, die Auswirkungen der Olympischen Spiele auf die fünfte Welle wissenschaftlich zu quantifizieren. Aber es ist klar, dass die Zahl der Infektionen und Todesfälle in der fünften Welle ohne die Olympischen Spiele und mit strengen Infektionskontrollmassnahmen gegen den Deltastamm deutlich niedriger gewesen wäre.»
Immerhin, nach Stand der Dinge kam es wegen der Spiele zu keinen neuen Coronavirus-Mutationen. Glück gehabt, teilt Naoto Ueyama mit. Seine Olympia-Botschaft klingt ganz anders als die von Toshiro Muto. Der Mediziner findet: «Gemäss der Olympischen Charta sollten Olympische Spiele mit hohem Risiko nicht zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem eine Pandemie ausbricht und Menschen auf der ganzen Welt leiden.»
Hommage an den Wahnsinn
Das klingt nach einer Geschichte ohne Happy End. Klar, dass Tokios Olympiabetreiber eine ganz andere erzählen wollen. Im U-Bahnhof Kokuritsu-Kyogijo in Kasumigaoka hängen die Plakate der Kampagne Tokyo Forward. Die Metropolregierung pflegt damit die Erinnerung an die Spiele als Bühne für Inklusion, Umwelttechnologie, nachhaltige Stadtentwicklung, Infektionsschutz, Sporterziehung und menschliche Wärme. Draussen liegt das renovierte Nationalstadion in der Wintersonne. Die hohen Zäune, die es vor der Olympia-Eröffnung lange umgaben, sind weg. Man kann unter den holzvertäfelten Tribünen an jungen Bäumen vorbei über den weiten Vorplatz flanieren. Idylle mitten in der riesigen Stadt. Das ist selten.
Und im Olympischen Museum, das auf der anderen Seite der Strasse liegt, schaut man in die lächelnden Gesichter der japanischen Olympiamannschaft. Eine Fotowand ehrt Nippons Sportlerinnen und Sportler. Eine kleine Ausstellung zeigt Schuhe und Trikots, in denen einzelne von ihnen ihr ganz persönliches Spieleerlebnis hatten. Alles hier fügt sich zu einer Hommage an den Wahnsinn, die Spiele durchgezogen zu haben. Und zu der Frage: Wäre es wirklich besser gewesen, wenn sie nicht stattgefunden hätten?
Takayoshi Kim in Tatsumi regt sich jedenfalls nicht mehr auf, auch wenn es noch gute Argumente gäbe, von Verschwendung zu sprechen. 56,7 Milliarden Yen, umgerechnet 436,2 Millionen Euro, hat die Metropolregierung der Bau des Tokyo Aquatics Center gekostet. Nach Informationen der Zeitung Asahi erwartet sie vom nacholympischen Betrieb ein jährliches Minus von 638 Millionen Yen (4,9 Millionen Euro). Ausser der Volleyballhalle Ariake Arena wird nach den Prognosen keine der sechs Sportstätten, die für die Spiele neu erbaut wurden, einen Jahresgewinn abwerfen.
Aber man kann ja nicht ewig schimpfen. «Ich mag die Schwimmhalle», sagt Takayoshi Kim. Er lacht. Sie nicht zu mögen, bringt ohnehin nichts mehr.
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