Psychologie in der PandemieWas Twitter-Nachrichten über unser Gemüt verraten
Montags ist die Stimmung schlecht, Unwetter und Covid-19 trüben sie noch stärker. Computerlinguisten erfassen mit Hilfe von Twitter-Posts die weltweite Gefühlslage.
Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verbreitung des Coronavirus zur globalen Pandemie. Wie sich das emotional auswirkte, lässt sich inzwischen mit Zahlen beschreiben: Die Welt erlitt einen Stimmungsknick, der fast fünfmal heftiger ausfiel als der übliche Gefühlseinbruch von Sonntag auf Montag – dem unglücklichsten Tag der Woche. Ermittelt haben das die Macher des Projekts «Global Sentiment». Es hat zum Ziel, das subjektive Wohlbefinden nach Katastrophen zu erfassen.
Dass die Pandemie global die Stimmung drückte, lässt sich zwar auch ohne grössere Forschungsarbeit feststellen. Erstaunlich ist vielmehr die Methode, die eingesetzt wurde: Das Team um die Ökonomin Siqi Zheng vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, wertete 654 Millionen Postings auf Twitter und Weibo (dem chinesischen Pendant des Kurznachrichtendienstes) aus. So soll ein verzerrtes Bild aus klassischen Befragungen per Telefon vermieden werden, die häufig eher die Stimmungslage reicher Länder abbilden.
Die Studie zum Corona-Stimmungsknick, erschienen im Fachblatt «Nature Human Behaviour», stützt sich auf «natural language processing», kurz NLP. Damit ist das Erkennen und Verarbeiten von menschlicher Sprache durch Maschinen gemeint, im Deutschen Computerlinguistik genannt. Das Team griff dafür auf eine modifizierte Version von «BERT» zurück, einer Künstlichen Intelligenz (KI) von Google, und analysierte damit sämtliche Tweets, die im ersten Halbjahr 2020 verfasst und mit einer Standortinformation versehen worden waren.
Covid-19 schlug mehr auf die Stimmung als Extremwetter
An Wochenenden, so schreiben die Forschenden, werde meist Positives gewittert, für den NLP-Algorithmus zu erkennen an Worten wie «gut», «schön» oder «traumhaft». An Montagen hingegen sind dunklere Gedanken verbreitet, angesichts der bevorstehenden Arbeitswoche fühlen sich viele User dann «mies», «krank» oder haben «keine Lust». Werden solche «Sentiments» mit einem Thema wie dem Coronavirus verknüpft, klingt das zum Beispiel so: «Erst dachte ich noch, das geht alles schnell wieder vorüber. Langsam macht mir Corona aber richtig Angst!» Durch die Auswertung solcher Nachrichten ermittelten die Studienautoren, dass Covid-19 stärker auf die globale Stimmung schlug als beispielsweise extreme Wetterlagen wie Hitzewellen oder Hurricanes.
Bei der Untersuchung von Postings, die sich um Dürreperioden und andere extreme Wetterlagen als Folge des Klimawandels drehten, hatte das Team mehrere Stimmungstiefs gemessen – jedoch kleinere als im Vergleich zu dem Tief nach der ersten Covid-Welle. Besonders emotional reagierten Twitter-Nutzer, wenn das Thermometer sehr niedrige oder hohe Temperaturen anzeigte. Ähnlich negativ äusserten sich viele nach Waldbränden in Indonesien, die dort aufgrund der Erderwärmung und der intensiven Landwirtschaft immer häufiger auftreten und auch zu einer Verschlechterung der Luftqualität führen. In Kurznachrichten aus Indonesien sank die Häufigkeit positiver Äusserungen und damit der Stimmungsindex mit steigender Feinstaubkonzentration.
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden untersuchten die Forschenden jedoch weltweit. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede: Je mehr Covid-Fälle in einem Land gemeldet wurden, desto negativer äusserten sich die Menschen. Ausserdem korrelierte eine schlechte Stimmung häufig mit der «kulturellen Lockerheit» eines Landes, wie die Wissenschaftler schreiben. So waren die Gemüter in freiheitlich geprägten Staaten wie Australien, Spanien und Grossbritannien am stärksten getrübt. In Ländern, in denen Menschen bei Nichtbeachtung von Regeln mit harten Strafen zu rechnen haben, in China oder Bahrain etwa, wurde auf Social Media weniger Dampf abgelassen.
Lockdowns führten zu besserer Laune
Während der Pandemie stieg das Befinden der Weltbevölkerung langsam wieder an, als die meisten Regierungen Eindämmungsmassnahmen und insbesondere Lockdowns verhängten. Als Gradmesser für die Akzeptanz jener Massnahmen diente die Zeit, die es dauerte, bis die durchschnittliche vorpandemische Stimmung zur Hälfte wieder hergestellt war.
In Israel, damals Vorreiter in der Pandemiebekämpfung, rappelten sich Twitternde mit 1,2 Tagen besonders schnell wieder auf. In der Türkei dauerte es hingegen 29 Tage, bis das ursprüngliche Stimmungsniveau wieder zur Hälfte erreicht war. Unter dem Strich, so schreiben die Studienautoren, führten Lockdowns nicht nur zu negativen Gefühlen wie Einsamkeit, sondern diese gaben vielen Menschen auch ein Gefühl von Sicherheit – zumindest jenen, die darüber in sozialen Netzwerken schreiben.
Damit der Algorithmus weiss, bei welchen Tweets es sich um den Ausdruck positiver oder negativer Emotionen handelt, wurde er vorab mit 1,6 Millionen Kurznachrichten trainiert, die in diese beiden Kategorien eingeteilt worden waren. Als Plattform für das maschinelle Lernen diente Sentence-BERT (ein Akronym für «Bidirectional Encoder Representations from Transformers»), ein auf das Verstehen von Sätzen spezialisiertes Programm, das 2018 von Googles Entwicklern vorgestellt wurde.
Das Programm hat gelernt, den Kontext zu verstehen.
«BERT ist ein tiefes neuronales Netzwerk», erklärt Nils Reimers, der früher an der TU Darmstadt über maschinelles Lernen und NLP forschte und mittlerweile beim Start-Up-Unternehmen «Hugging Face» arbeitet. Mit diesen Netzwerken werde versucht, das menschliche Gehirn und die Neuronen darin nachzubilden, von deren Komplexität sind jedoch selbst ausgefeilte KIs noch weit entfernt.
Durch BERT gelingt es Suchmaschinen jedoch, Texteingaben besser zu verstehen. Das Aneinanderreihen von Schlagwörtern – Fachleute sprechen vom Keyword-Dumping – kann so umgangen werden. Statt einer lexikalischen Suchanfrage, zum Beispiel «Strasse Flush Poker», bei der man als oberstes Ergebnis die allgemeinen Poker-Regeln angezeigt bekommt, erlaubt BERT eine semantische Suche. Das Programm hat gelernt, den Kontext zu verstehen, etwa durch stärkere Gewichtung von Präpositionen. Dies erlaubt das Eintippen von ganzen Fragesätzen. So erhält man auf die Frage «Schlägt eine Strasse einen Flush beim Poker?» direkt die Antwort («Nein»), mitsamt einer Erklärung.
Grundlage von BERT und ähnlichen Algorithmen ist eine Netzwerkstruktur, die auf sogenannten Transformern beruht. Damit werden Worte, zum Beispiel die einer Suchanfrage, in einen mathematischen Formalismus überführt. Ähnliche Begriffe befinden sich dann in der gleichen Region eines mathematischen Raumes. «Die Worte müssen dabei nicht identisch sein. Es ist egal, ob von Corona, Covid, oder SARS-CoV-2 die Rede ist, das Modell erkennt die semantische Ähnlichkeit», erklärt Reimers.
Trotz des Fortschritts beim Textverständnis sieht der NLP-Experte bei BERT und vergleichbaren Programmen noch Schwachstellen. Auf die «Global Sentiment»-Studien des MIT bezogen gebe es das Problem, dass Tweets neutral sein können, oder dass Twitter-Nutzer mehrere, gespaltene Gefühle äussern. Mehrdeutigkeit oder Ironie erkenne das System nicht gut: «Ich verliere alles, was dazwischen, was facettenreich ist», so Reimers. Davon abgesehen sei es fraglich, inwiefern die Auswertung von Tweets wirklich ein repräsentatives Stimmungsbild abgibt. «Meine Grosseltern sind nicht auf Twitter», verdeutlicht der Computerwissenschaftler die Verzerrung. User des sozialen Mediums seien eher jung, extrovertiert und neigten zu extremeren Meinungen.
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