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Buch mit Kim de l’Horizon und Co. 
Was ist Männlichkeit heute?

Schreiben über Männlichkeit: Daniel Schreiber, Kim de l’Horizon, Sascha Rijkeboers und Michael Fehr. 
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Ein Mann hat einen kräftigen Händedruck. Ein Mann zeigt keine Angst. Schon gar nicht vor anderen Männern. Ein Mann weint nicht, weil er keine Verletzlichkeit zeigen darf. Ein Mann spricht nicht mit seinen Freunden über Selbstzweifel, Liebeskummer, Unsicherheit, Geschlechtskrankheiten oder Geldprobleme.

Ein Mann erzählt anderen Männern nicht von seinen ambivalenten Gefühlen, verschweigt sein Ringen mit eingefahrenen Männlichkeitsidealen und verschluckt sich an inneren Widersprüchen. So weit das antiquierte Bild des «starken Geschlechts».

Jetzt kommt ein Buch auf den Markt mit dem Titel: «Oh Boy: Männlichkeit*en heute. Eine Inventur der Männlichkeit». Männlichkeit mit Genderstern, wirklich? Der Puls steigt. Wieder was Diverses – anstrengend. Aber keine Sorge, dieses Buch ist eine Einladung. Eine Einladung zum Gespräch darüber, wie Männer sozialisiert wurden, was sie sind oder waren oder vielleicht lieber sein möchten. Ein Buch wie eine Starthilfe gegen die Sprachlosigkeit.

Daniel Schreiber wurde mit seinen Essays «Nüchtern», «Zuhause» und zuletzt «Allein» sehr bekannt.

Wir lesen 18 Selbstbefragungen von schreibenden Menschen der Gegenwart. Herausgegeben haben diese Anthologie die Autoren Valentin Moritz und Donat Blum. Das Nachwort überlassen sie der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal. Sie schreibt einen Satz, der beinahe programmatisch für die vielstimmige Debatte stehen kann: «Wir schauen Männer in der Regel nicht an und fragen uns: Wo ist dieser Mensch verletzlich? Sondern: Wie kann er mich verletzen?»

Emotionen werden evakuiert

Erschütternd ist, wie oft in den Erzählungen Männlichkeit automatisch gewaltgetränkt ist. Antrainiert und vorgelebt, müssen immer Muskeln im Spiel sein. Wie oft sieht man Männer denn in körperlicher Nähe zueinander? Kaum. Und wenn, werden sie sofort einer intim-romantischen Situation verdächtigt.

Theaterautor Kristof Magnusson betrachtet die Kapitalisierung von Männlichkeit. Er erfindet einen fiktiven Dialog in einer Marketingabteilung, die sich bemüht, Pflegeprodukte für Männer zu bewerben. Aktivkohle! Weil gefährlich und aggressiv, ergo: mega männlich. Überspitzt, denken Sie? Na ja, dem Autor wird im Drogeriemarkt eine Grillzange mit integriertem Flaschenöffner geschenkt. Eine Aktion der Kosmetikmarke L’Oréal.

Der Berner Autor und Musiker Michael Fehr macht Sprache immer zum Ereignis.

Der Berner Erzähler und Sänger Michael Fehr reisst uns in seiner unheimlichen Geschichte in die seelischen Untiefen von Rekruten in Räuberstiefeln, die ihnen aber nicht passen. Der Räuberhäuptling will davon nichts wissen, jagt sie durch eine Gasse und reproduziert Sätze wie: «Morgen werden Gesetze gebrochen, das gibt ein Tauziehen zwischen uns und den normalen Menschen.»

Dieses Buch kann allein gelesen werden, aber dann funktioniert es nur halb.

Gefühle würden abgespalten und verdrängt, aber nicht zwingend verarbeitet werden, beschreibt Dinçer Güçyeter. Er, der Lyrik verlegt und dafür Gabelstapler fährt, spricht vom «Evakuieren der Empfindungen». Und fragt: «Wie viele Imperien sind unter diesem stolzen Männerbild geschmolzen, wie viele Massengräber hat es hinterlassen? Mehr als die Welt tragen kann.»

Bestseller-Essayist Daniel Schreiber erzählt in seinem Text von einer Liebesbeziehung zwischen zwei Männern. Und dem schwulen Selbsthass, der davon rührt, dass sich ein Mann fragt, weshalb er ständig als schwul erkannt werde. Dieses Unterdrücken mündet in eine rabiate, hilflose Trennung zwischen den zwei Männern.

Der Dokfilm «Being Sascha» gibt Einblicke in die Lebenswirklichkeit eines Menschen, der sich als «trans non-binary» bezeichnet.

Es gibt einen Text in dieser Sammlung, dem kann niemand ausweichen. Sascha Rijkeboers unternimmt einen Ausflug zu einer Schwulenparty und zeigt plastisch, dass das Gegenüber entscheide, welches Geschlecht Sascha hat. Eindrücklich sind auch die Schilderungen über diese Party hinaus, was mit dem Körper geschieht, seit Sascha die «volle transmasc Dosis Testo ballere».

Kim de l’Horizon, Schweizer Shootingstar, erzählt protokollarisch zwischen Instagram-Netflix-Ablenkung, Rückenschmerzen und «Kinder-Bueno-Riegeln» von der Verzweiflung, diesen Auftragstext überhaupt zu schreiben, und dem Leistungsdruck, immer wieder über Geschlecht nachdenken zu müssen. «Ich habe wirklich nicht den blassesten Schimmer, was ihr meint, mit eurem FRAUMANNQUEERNONBINÄRINTERTRANS*DRECK bitte bleibt mir vom Leibe … wir haben einfach so einen Körper, der ständig einatmet ausatmet … und immer müssen wir ihm mit Wörtern auf den Leib rücken.»

Alle Texte in «Oh Boy» leben von angemessener Dringlichkeit. Es sind beinahe alles Erstveröffentlichungen. Sie sind laut, lustig, anklagend, beschämt oder mystisch – sie mussten aufgeschrieben werden, wirken manchmal noch etwas roh. Aber es sind eben erste Schritte, der Verschwiegenheit mit Sprache entgegenzutreten. Das ist grossartig.

Dieses Buch kann übrigens allein gelesen werden, aber dann funktioniert es nur halb. Sich einander daraus vorzulesen wäre eine Möglichkeit; es zu verschenken und sich dann beim Bier darüber auszutauschen, eine andere. Aber: Seien Sie zärtlich miteinander. Denn ein Genderstern allein stellt das Patriarchat noch nicht in den Schatten.

Am 13. Juli findet im Rahmen des Literaturfestivals Zürich die Schweizer Buchpremiere statt. Nebst Autorinnen und Autoren, die für die Anthologie geschrieben haben, wird auch Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider auf der Bühne sein. Ins Gespräch kommen alle mit Franziska Schutzbach, die den Abend moderiert.

Donat Blum, Valentin Moritz (Hrsg.): Oh Boy: Männlichkeit*en heute. Eine Inventur der Männlichkeit. Kanon-Verlag, 2023. 238 S., ca. 26 Fr.