TV-AnalyseWarum schauen Menschen gerne «Dschungelcamp»?
Leute interessieren sich für fiktionale Figuren aus einem einfachen Grund: Es könnte ihnen das Leben retten.
![Filip Pavlovic kämpft sich auf der Suche nach acht Plastiksternen durch einen Abwasserkanal.](https://cdn.unitycms.io/images/FrtyBrVuqPb854jiNkJMBB.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=DQsSKKfdXtA)
Ein guter Grund, das Dschungelcamp zu schauen, ist, dass man dann endlich mal Zeit hat, sich zu fragen, warum Menschen das Dschungelcamp schauen. Es sind ja nicht nur ein paar Verrückte.
Klar, die Sendung ist unfassbar clever getextet. In eine Moderation Brecht, Büchner und Kant einzubauen und das dann in reinstes Pathos aufzulösen (im Dschungel kennt man «Brecht» nur als Imperativ), das ist wirklich schön. Aber das dauert nur wenige Minuten und dazwischen passiert nicht viel. Menschen sitzen rum, kochen Bohnen, putzen Pfannen (und das auch noch falsch!), tun etwas für ihr Hautmikrobiom (nicht duschen, die Dusche funktioniert nicht), und dabei werden Gespräche geführt, die weder besonders intelligent noch besonders lustig, noch besonders besonders sind.
Bei aller Exaltiertheit der Charaktere: Am Ende sind es Menschen, die sich gegenseitig auf die Nerven gehen (diesmal vor allem Eric Stehfest und Filip Pavlovic), sich streiten (alle), «einfach mal klären wollen» (Harald Glööckler und Überraschungsdiplomatin Linda Nobat) und sich am Ende irgendwie wieder vertragen.
Warum reicht das?
Dass das reicht, ist ausgiebig bewiesen, viel faszinierender ist die Frage: Warum reicht das? Hier hilft ein Buch von 2009: Blakey Vermules «Why do we care about fictional characters?». Die Literaturwissenschaftlerin Vermule erklärt das Interesse an Literatur und fiktionalen Figuren – inklusive echter Menschen, die man nur aus Erzählungen kennt – damit, dass Menschen Typisierungen und kognitive Modelle menschlichen Verhaltens brauchen, speziell solcher Menschen, die sie nicht kennen.
Vermule argumentiert evolutionsbiologisch, es sei schlicht ein Überlebensvorteil, schnell einschätzen zu können, wem man vertrauen kann und wer einem mit dem Messer in den Rücken fallen wird. Und zwar nicht nur im Dschungel (also dem Dschungel der evolutionsbiologisch relevanten Vergangenheit, wie dem der jüngeren Fernsehgeschichte), sondern bei jeder sozialen Interaktion. Das Leben besteht aus Situationen, in denen es überlebenswichtig sein kann, gute Prognosemodelle über menschliches Verhalten zu haben. Die Freude an Literatur, so Vermule, ist im Grunde die Freude an Klatsch, ist die Freude eines Gehirns, welches sich einen Überlebensvorteil verschafft, weil es sich nicht mehr so leicht täuschen lässt.
Diese Freude bietet der Dschungel in Reinform. Wenn Eric Stehfest sich einer Dschungelprüfung verweigert und damit die ganze Gruppe um ihr Abendessen bringt, dann zeigt er damit, dass man sich auf Typen wie ihn nicht verlassen sollte, wenn man essen möchte. Für die Gruppe ist das bitter, sie mussten sich ihren Wissenserwerb immerhin mit Hunger erkaufen, der Zuschauer kann dabei ordentlich snacken.
Und wenn Eric sich danach bei Filip entschuldigt (mit einem Streit zwischen den beiden fing alles an), sich mit ihm versöhnt und dann verkündet, er habe Filip «an den Augen angesehen, dass das schon ehrlich ist», nur damit Filip kurze Zeit später im Einzelinterview erklärt, dass er lediglich «fürs Team» eine Versöhnung vorgespielt habe, dann lernt man etwas über die Leichtgläubigkeit von Typen wie Eric, die Teamfähigkeit von Typen wie Filip und dass man Augen besser küssen sollte, als ihnen zu glauben.
Wir, im Camp und ausserhalb, reden alle viel Unsinn
Generell, so lernen Kandidaten und Zuschauerinnen, sollte man das meiste, was Menschen sagen, auf gar keinen Fall glauben. Oder wie Glööckler es zum armen Eric sagt: «Glaube nichts von alle dem, was ich dir jemals erzählt habe, ich rede nur Unsinn.» Und als Eric, der nach eigener Aussage vor allem davor Angst hat, dass Menschen «fake» sind, Glööckler bedröppelt darauf anspricht, antwortet der «Da guck ich dir in die Augen, da ist nichts vorgespielt. Ich hab dir nur Dinge erzählt, die 100 Prozent wahr sind.» Das doppelte alle-Glööckler-lügen-Paradox könnte man Glööckler vorhalten, aber es spricht doch eher für etwas zutiefst menschliches: Wir, im Camp und ausserhalb, reden alle viel Unsinn.
Und so ist ausgerechnet die Dschungelprüfung der literarischste Teil des Dschungelcamps (im Vermule'schen Sinne). Denn hier hören die Kandidaten auf, Unsinn zu reden und machen, was Schreibratgeber schon lange lehren: «Show, don't tell.» Filip kann viel über Teamfähigkeit reden, aber glauben muss man ihm erst, wenn er durch einen von Kakerlaken verseuchten Kanalisationsnachbau schwimmt, ihm Krokodile auf den Kopf fallen, und er bei aller Angst und allem Ekel trotzdem alle Sterne holt. Und auch wenn Eric erzählt, im zwölften Jahrhundert ein Ritter gewesen zu sein, sein Prüfungsverhalten war eben nicht ritterlich. Trotzdem hat auch Eric etwas für das kognitive Menschenmodell gelernt: «Jetzt weiss ich wirklich, dass das alles wahrhaftig ist. Ihr seid echte Menschen.» Zumindest mit Letzterem hat er recht.
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