Kapitalismus-Kenner im Interview«Falschmeldungen verbreiten sich sechsmal schneller als überprüfte Nachrichten»
Auf den digitalisierten Finanzmärkten seien Informationen wichtiger als Geld, findet Princeton-Professor Joseph Vogl. Was, wenn diese Infos falsch sind?
Herr Vogl, wer sind die Pandemiegewinner?
Die grossen Plattformunternehmen wie Versandhändler, Suchmaschinen, Lieferdienste oder soziale Medien. Mit ihren Dienstleistungen haben sie sich unter anderem auch in den Gesundheitsmarkt gedrängt und übernehmen zunehmend staatliche beziehungsweise parastaatliche Aufgaben.
Parastaatliche Aufgaben?
Ja, sie besetzen öffentliche und soziale Infrastrukturen. Während der Pandemie wurden sie noch vehementer zu Infrastruktur-Lieferanten, die sich in Kooperation mit staatlichen Institutionen unentbehrlich gemacht haben.
Wird das auch nach der Krise so bleiben?
Es sieht ganz danach aus, als ob mehr und mehr Kompetenzen vom vorsorgenden Staat an fürsorgliche Unternehmen abwandern würden. Schöne Profitaussichten.
Um Profit gehts auch in Ihrem neuen Buch «Kapital und Ressentiment», in dem Sie behaupten, dass Information wichtiger sei als Geld. Können Sie das erläutern?
Die Finanzökonomie hat sich in engem Austausch mit den Kommunikationstechnologien entwickelt: Seit der Frühen Neuzeit ging es darum, sich mit Zeitvorsprüngen Informationsvorsprünge zu verschaffen – und damit Investitionsvorteile. Brieftauben und Postreiter, Telegrafie und Telefon waren elementar im Kampf um Informationsvorsprünge auf den Finanzmärkten, insbesondere an den Börsen.
Hat sich dieser Trend zugespitzt?
Ja. Zur engen Symbiose von Finanzökonomie und Kommunikationstechnologien kommt heute etwas Neues hinzu, unter der Bedingung digitaler Netzwerke: 70 Prozent aller Finanztransaktionen werden heute automatisch abgewickelt. Hier operieren Informationsmaschinen. Die Finanzindustrie selbst ist zu einem Informationen generierenden Apparat geworden. Dabei werden Preise als perfekter Ausdruck aller verfügbaren Informationen über Finanzprodukte begriffen – wobei neue Informationen dann Preisschwankungen und diese wiederum Kaufentscheidungen auslösen. In diesen Finanzautomaten ist eben Information über Geld wichtiger als Geld selbst.
«Im Unterschied zu Information ist Wissen nicht automatisierbar, algorithmisierbar, skalierbar.»
Obwohl es immer mehr Informationen gibt, stellen Sie mehr Ignoranz fest. Wie geht das zusammen?
Information ist nicht gleich Wissen. Im technischen Sinn unterscheidet Information nicht zwischen dem, was festgestellt, bewiesen und begründet wird, und dem, was bloss behauptet, geglaubt und gemeint wird. Sie ist reine Überraschungsdifferenz und kann gerade darum von Algorithmen verarbeitet werden.
Und Wissen?
Wissen hingegen ist nicht auf diese Weise reduzierbar. Es verlangt offene Zeithorizonte und unabsehbare Recherchewege, es hat niemals die Gegebenheit von Daten. Darum ist Wissen im Unterschied zu Information auch nicht automatisierbar, algorithmisierbar, skalierbar. Die Explosion von Informationen auf den Finanz- und Meinungsmärkten geht also zwangsläufig mit einer Ausweitung von Ignoranzzonen einher.
Unter welcher Voraussetzung konnten diese sogenannten Meinungsmärkte entstehen?
Man hat es mit der Aufzucht von neuen Medienkonzernen zu tun. Ein wichtiges Datum dafür war 1996, als das Internet rabiat privatisiert worden ist, also von einer öffentlichen zu einer unternehmerisch besetzten Infrastruktur wurde. Doch damit nicht genug: Mit demselben Gesetz hat man in den USA für die Internetprovider Ausnahmeregelungen geschaffen, die es für andere Unternehmen nicht gibt: etwa, dass sie für die auf ihren Plattformen und Netzwerken vertriebenen Inhalte nicht verantwortlich sind.
Das Privileg, nicht haften zu müssen, hat weitreichende Konsequenzen.
Diese Medienunternehmen, die damit nicht als Publisher, sondern als blosse Makler oder Vermittler definiert werden, haben die neuen Meinungsmärkte befeuert.
Der Legitimationszwang ist für diese neuen Kommunikationsmärkte nicht mehr nötig.
Nicht nur nicht mehr nötig, vielmehr war diese Ausnahme, dieses Haftungsprivileg, die Bedingung dafür, dass diese Märkte überhaupt existieren und rasant expandieren konnten.
«Die Meinung, die Erde sei flach, ist heute schlicht informativer als die Aussage, die Erde sei rund.»
Verbreiten sich Falschmeldungen in den sozialen Medien schneller und häufiger als geprüfte Nachrichten?
Das haben zumindest Untersuchungen ergeben: Demnach verbreiten sich Falschmeldungen sechsmal so schnell und hundertmal so häufig wie überprüfbare Nachrichten. Meldungen, die das Unerhörte oder Absonderliche transportieren, haben einen höheren Überraschungs- und Neuigkeitswert als übliche Nachrichten. Es geht um die Irritation von Erwartungshaltungen. Oder anders gesagt: Die Meinung, die Erde sei platt wie eine Pizza, ist heute schlicht informativer als die altbekannte Aussage, die Erde sei rund.
Trägt die verbreitete Kurzform Twitter dazu bei, dass Meinungen schneller kursieren als Wissen?
Diese Kommunikationsart lässt sich mit der Beschleunigung von Reiz-Reaktions-Mustern erklären. Sie entwickelt einen ballistischen Charakter, wobei es um Targeting, Peilung, Adressierung und Trefferquoten geht – also um die Perfektion einer kommunikativen Schlagfertigkeit. Ein ehemaliger US-Präsident hatte es so formuliert: «Boom, ich drücke ab, und zwei Sekunden später heisst es: Wir haben eine Eilmeldung.» Das funktioniert nach dem Muster militärischer Feindkennung.
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Es geht also weniger um die Herstellung von Gemeinsamkeiten oder Gemeinschaften?
Das Geschäftsmodell sogenannter sozialer Medien besteht ja im Wesentlichen darin, separate Communitys und Partikulargemeinschaften zu produzieren. Die damit verbundenen Reibungen und Schismen entfalten antidemokratische Dynamiken, und je grösser der Erregungspegel, je höher der kommunikative Überschwang, desto mehr Datenrohstoff wird produziert, der dann von den Unternehmen abgeschöpft und vertrieben werden kann.
Ist das Ressentiment das dominierende Gefühl der Gegenwart im Sinne einer Gegenreaktion auf ein System, das uns ungerecht behandelt?
Nein, im Gegenteil. Das Ressentiment ist nicht einfach eine Reaktion auf irgendwelche Benachteiligungen, sondern ein Systemeffekt. Bereits bei der Entstehung von Marktgesellschaften hat man beobachtet, dass ehemalige Todsünden wie Habgier, Geiz oder Neid überaus produktiv werden können: Besser als alle Tugenden tragen sie mit ihren Kniffen und Listen zur Belebung des Marktgeschehens bei. Das Ressentiment leidet am Diebstahl dessen, was nie besessen wurde.
«Das Ressentiment verhindert die Einsicht in die Funktionsweise der Apparatur.»
Sind Konkurrenzgesellschaften auf Ressentiments angewiesen?
Das Ressentiment ist darin Produkt und Produktivkraft zugleich. Allseitige Konkurrenz befördert die Auflösung von Solidarmilieus, und gerade die soziale Atomisierung trägt wiederum zur Stabilisierung des Konkurrenzsystems bei. Das Ressentiment wäre also ein ökonomisches Moralprinzip, es mobilisiert die Subjekte im Wettbewerb, es ist das moralhistorische Pendant zum kapitalistischen Betrieb.
Heisst das, dass Herrschende das Ressentiment für ihre Zwecke nutzen?
Nicht direkt. Aber man könnte im Ressentiment die Figur eines konformistischen Aufruhrs erkennen. Ein historisches Beispiel: Als Ende des 19. Jahrhunderts in den Gründerzeitkrisen das Banken- und Finanzsystem kollabierte, waren die Schuldigen schnell ausgemacht: das internationale jüdische Finanzkapital. Antisemitische Parteien wurden gegründet und zogen in die Parlamente ein. Die kapitalistischen Verhältnisse aber blieben unbehelligt. Ähnliches konnte man nach dem Finanzcrash von 2008 bemerken, mit dem Aufschwung von völkischen und xenophoben Bewegungen. Das Ressentiment hat also eine gewisse Systemrelevanz: Es verhindert die Einsicht in die Funktionsweise der Apparatur.
Führen all diese Tendenzen zu einer Erosion demokratischer Rechtsstaatlichkeit?
Ja, der demokratische Rechtsstaat ist in der Defensive. Nicht nur angesichts der neuen Konjunktur autoritärer Regimes, auch in Europa. Einen wesentlichen Beitrag liefert vielmehr der Finanz- und Informationskapitalismus: Mit seinen globalen Unternehmensstrukturen hat er sich längst unabhängig gemacht von den Institutionen und rechtlichen Beschränkungen der alten Nationalstaaten. Die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats – das wird einer der wichtigsten Schauplätze für die politischen Kämpfe der nächsten Jahre sein.
Was wäre zu tun?
Interessante Signale kommen ja von einer überraschenden Seite: Selbst der erzliberalen Europäischen Kommission ist die Sache bereits unheimlich geworden, und in einer Reihe von Gesetzentwürfen seit Ende letzten Jahres werden Vorschläge zur Einhegung der Plattform- und Informationsindustrie gemacht: Zerschlagung von Monopolisten, Begrenzung von Datenextraktion, Revision des Haftungsprivilegs, Rückgewinnung öffentlicher Infrastrukturen in der digitalen Netzarchitektur. Warum also nicht noch einmal auf Europa setzen?
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