Covid im KopfWarum die Rückkehr ins normale Leben Angst macht
Sie sind geimpft, aber scheuen sich davor, hinauszugehen und sich unter die Leute zu mischen? Damit sind Sie nicht allein.
Oft ist in diesen Tagen von einem Sommer des Rausches die Rede, von einer grossen Lust auf Feiern und Ekstase. Schliesslich sind bald alle, die das wollen, geimpft und somit mit hoher Wahrscheinlichkeit vor einer Infektion oder zumindest einem schweren Krankheitsverlauf geschützt. Normalität, wir kommen!
Bloss: Was, wenn sich dieses sogenannt normale alte Leben so seltsam anfühlt? Wenn man die neuen Umgangsformen, die uns das Virus von einem Tag auf den anderen übergestülpt hat, nicht mehr so leicht wegkriegt?
Die Covid-Impfung – das wird deutlich, wenn man sich ein wenig umhört – macht zwar immun gegen das Virus, aber eben nicht gegen die Ängste, die uns seit Monaten begleiten. Da ist die Bekannte, die trotz Immunisierung auf einem Spucktest besteht, bevor sie Freunde zu sich nach Hause einlädt. Oder die Freundin, ebenfalls geimpft, die sich davor fürchtet, ins Kino zu gehen – Innenräume sind gefährlich, das haben wir doch nun lange genug gelernt.
Ein anderer versteht seinen über 80-jährigen Vater nicht mehr, der sich – schon doppelt geimpft – so verhält, als befänden wir uns noch in der Zeit des strikten Lockdown: «Wenn ich meine Eltern besuche, sitzen meine Mutter und ich am Esstisch für Kaffee und Kuchen und er im Wohnzimmer. Einen Ellenbogengruss macht er gerade noch knapp.» Fast schon absurd werde es beim Einkaufen: «Er fährt meine Mutter zum Supermarkt, bleibt aber die ganze Zeit im Auto sitzen, mit Maske, und wartet auf sie. Er möchte auch nicht, dass sie den Bus nimmt.»
Nun macht sich plötzlich ein neues Gefühl breit: Fono (Fear of Normal), die Angst vor der Normalität.
Die Rede ist hier nicht von Menschen, die mit Geselligkeit nicht viel anfangen können und eigentlich ganz froh waren, dass sie zuletzt mit dem Virus stets eine elegante Entschuldigung zur Hand hatten, um Familienfesten oder Geburtstagseinladungen fernzubleiben. Im Gegenteil, gemeint sind jene, die vor der Pandemie gern und oft unter Menschen gingen, die Restaurants, Kinos und Theater schätzen – nun aber nicht einfach ihre alten Gewohnheiten aufnehmen möchten, als sei nie etwas geschehen.
«Mit meinem Vater darüber zu reden, ist schwierig», sagt der Bekannte. «Dass die Impfung praktisch einen hundertprozentigen Schutz gegen schwere Verläufe bietet, interessiert ihn nicht.» Bei anderen steht der Gedanke an die gesamte Gesellschaft im Vordergrund. Ein 47-jähriger Geimpfter sagt: «Ich gehe erst wieder in ein Restaurant, wenn die Fallzahlen zweistellig sind. Wir lassen uns ja nicht impfen, damit wir Party machen können, sondern damit das Virus ausgerottet wird.»
Als das soziale Leben während der Pandemie eingefroren war, wurde oft über die «Fear of Missing Out», kurz Fomo, gesprochen – also die Furcht, etwas zu verpassen: Partys, Konzerte, Geselligkeit. Nun, wo das Leben zurückkehrt, mache sich plötzlich ein neues Gefühl breit, schrieb kürzlich eine Journalistin in der «Washington Post»: Fono (Fear of Normal), die Angst vor der Normalität. Umarmen, jemanden beim Reden spontan am Arm berühren, auswärts essen, feiern: Was wir uns herbeigesehnt haben, liegt nun zum Greifen nah. Und fühlt sich plötzlich seltsam an.
«Corona akzentuiert die Unterschiede in unserer Gesellschaft.»
Sie sei nicht erstaunt, dass es vielen Menschen Mühe bereite, in ein normales Leben zurückzukehren, sagt die Psychologin Yvik Adler im Gespräch: «Die kommunikative Dauerbefeuerung der vergangenen Monate – Covid ist gefährlich, wir müssen uns und andere schützen – hat Spuren hinterlassen.»
Gleichzeitig waren die neu erlernten Verhaltensweisen – Maske, Distanz, sozialer Rückzug – wohl auch eine Art sicherer Anker in der Zeit maximaler Verunsicherung. Die Corona-Welt war zwar eintönig, dafür aber auch sehr berechenbar und paradoxerweise in gewissen Bereichen sicher (beispielsweise verunfallten deutlich weniger Menschen oder steckten sich mit der Grippe an). Das neue Normal hingegen wartet mit vielen Unsicherheiten auf: Wie lange ist die Impfung wirksam? Kommt bald eine neue Mutation? Welches Leben erwartet uns im Herbst, Winter?
Das verunsichert. Etwa jene junge Mutter, die sich um ihr Baby sorgt: «Solange man nicht zu hundert Prozent weiss, ob man das Virus nicht doch übertragen kann, möchte ich kein Risiko eingehen.» Berichte über schwere Verläufe bei sehr kleinen Kindern haben ihr Angst gemacht. Deshalb möchte sie noch kein Restaurant von innen sehen.
«Es braucht Zeit»
Es seien vor allem Menschen mit hohem Sicherheitsbedürfnis – die oft schon während der Pandemie sehr vorsichtig waren –, die nun mehr Zeit bräuchten, um sich mit der neuen Realität anzufreunden, sagt die Psychologin Yvik Adler.
Damit bringt die Pandemie, besonders in ihrer zweiten Phase, einmal mehr zum Ausdruck, wie unterschiedlich wir alle ticken. Bloss geht es hier nicht mehr um politische Differenzen, sondern um die Ängste und Bedürfnisse jedes Einzelnen: Die eine sehnt sich jetzt nach sozialen Kontakten, für den anderen steht Sicherheit über allem.
«Corona akzentuiert die Unterschiede in unserer Gesellschaft, das zeigt sich auch jetzt nochmals», sagt Adler. Die Ängstlichen verstehen die Forschen nicht – und umgekehrt. Was hilft? «Es braucht Zeit», sagt Adler, «und die Bereitschaft, sich interessiert dem anderen zuzuwenden und beispielsweise zu fragen: ‹Was kann ich tun, um dir mehr Sicherheit zu geben?›.» So können wir irgendwann als Gesellschaft wieder zusammenrücken – auch physisch.
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